Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen Podcast zum neuen BIP t+30

BIP wird erstmals nach 30 Tagen veröffentlicht

Wie stark ist die Wirtschaftsleistung tatsächlich zurückgegangen? Das ist eine Frage, die Märkte beeinflusst und die Politik bewegt. Für die Beantwortung dieser Frage kommt einer Zahl besondere Bedeutung zu: der Entwicklung des Bruttoinlandsproduktes, kurz BIP. Erstmals veröffentlicht das Statistische Bundesamt das BIP bereits 30 Tage nach dem Quartalsende. Und das ausgerechnet nach dem Quartal, in dem die Coronakrise voll durchschlägt. Warum diese Umstellung? Und warum gerade jetzt? Ein Gespräch mit Albert Braakmann, Leiter der Abteilung „Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen, Preise“ im Statistischen Bundesamt, und Michael Kuhn, Leiter der Gruppe „Inlandsprodukt, Input-Output-Rechnung“ im Statistischen Bundesamt und zuständig für die Berechnung und Veröffentlichung des Bruttoinlandsprodukts.

Herr Braakmann, was macht das Bruttoinlandsprodukt zu einer so wichtigen Zahl, die stark im Fokus des öffentlichen Interesses steht?

Albert Braakmann: Das Bruttoinlandsprodukt erfasst die wirtschaftliche Leistung einer gesamten Volkswirtschaft in einem bestimmten Zeitraum. Das heißt, die Veränderung des Bruttoinlandsprodukts zeigt, ob unsere Volkswirtschaft, ob Deutschland insgesamt mehr oder weniger erwirtschaftet hat und ob wir zum Beispiel mehr oder weniger Waren und Dienstleistungen konsumieren oder investieren können. Damit ist BIP weltweit der am meisten genutzte Wirtschafts- und Konjunkturindikator. Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass das BIP kein Wohlstandsindikator ist. Es zeigt nicht, ob es einer Gesellschaft insgesamt besser oder schlechter geht. Denn Geld allein macht, wie wir wissen, nicht unbedingt glücklich. Wesentliche Bausteine der Wohlfahrt sind neben der Wirtschaft insbesondere Gesundheit, Umwelt, Bildung oder auch Chancengleichheit. Aber die Veränderung des BIP zeigt uns deutlich, ob sich unsere wirtschaftlichen und finanziellen Handlungsmöglichkeiten insgesamt verbessern oder nicht.

Bisher wurden erste Ergebnisse für das Bruttoinlandsprodukt erst nach 45 Tagen veröffentlicht. Warum genau zu diesem Zeitpunkt?

Albert Braakmann: Das Bruttoinlandsprodukt wird auf der Grundlage von Fakten errechnet, d.h. vor allem amtliche Basisdaten und Wirtschaftsindikatoren werden dafür ausgewertet. Für die Konjunkturindikatoren, die in das Bruttoinlandsprodukt eingehen, werden in der Regel Unternehmen befragt, die ihre Daten an uns oder die Statistischen Landesämter übermitteln müssen. Zusätzlich werden Verwaltungsdaten, etwa zum Außenhandel oder zum Arbeitsmarkt, ausgewertet. Diese Daten müssen also erhoben, dann überprüft und aufbereitet werden. Das nimmt eine gewisse Zeit in Anspruch. Die ersten Konjunkturindikatoren stehen überwiegend nach etwas mehr als 40 Tagen zur Verfügung.

Selbst nach 45 Tagen liegen noch nicht für alle Wirtschaftsbereiche belastbare Ergebnisse vor. Die erste Berechnung des Bruttoinlandprodukts beinhaltet daher in der Regel einen Schätzanteil. Je früher berechnet werden soll, desto größer ist der Anteil, der geschätzt werden muss. Nach 45 Tagen haben wir wesentliche Ergebnisse, die eine belastbare Schnellschätzung zulassen. Anders ausgedrückt, war bisher nach 45 Tagen das austarierte, bestmögliche Verhältnis zwischen Aktualität einerseits und Genauigkeit andererseits erreicht.

Herr Kuhn, Eurostat veröffentlicht bereits nach 30 Tagen eine Schnellschätzung für den Euroraum, in die auch das deutsche BIP eingeht. Viele andere europäische Länder veröffentlichen ihr Ergebnis ebenfalls bereits nach 30 Tagen. Warum hat Deutschland das bisher nicht getan?

Michael Kuhn: Wir testen die BIP-Schnellschätzung nach t+30 Tagen schon seit einigen Jahren und haben die Abweichungen zur Berechnung nach 45 Tagen unter verschiedenen Rahmenbedingungen sorgfältig analysiert. Das Bruttoinlandsprodukt und seine Veränderungsrate sind für die wirtschaftliche Stimmung auf den verschiedenen Märkten von enormer Bedeutung. Überspitzt formuliert können ein paar wenige Zehntel Prozentpunkte die wirtschaftliche Stimmung deutlich beeinflussen und den Unterschied zwischen einer Stagnation und einer Erholung ausmachen. Belastbarkeit und Genauigkeit sind für uns sehr wichtige Qualitätskriterien! Wir können uns hier keine Fehler erlauben, dafür hängt zu viel vom BIP ab. Deshalb ist es wichtig, dass wir die Entscheidung für eine schnellere Veröffentlichung dieser wichtigen Zahl sehr sorgfältig abwägen und keine voreiligen Schritte tun.

Und wir haben natürlich noch andere Indikatoren für die Beobachtung der konjunkturellen Entwicklung. Unsere monatlichen Konjunkturindikatoren, erlauben – unabhängig vom Zeitpunkt der ersten Schnellschätzung des BIP – eine Einschätzung der Situation zu früheren Zeitpunkten für einzelne Branchen. So stellen wir gut 30 Tage nach Monatsende Daten zum Umsatz im Einzelhandel, zu den Auftragseingängen im Verarbeitenden Gewerbe und zur Industrieproduktion sowie zum Außenhandel zur Verfügung. All diese Indikatoren gehen auch in die Schnellschätzung für das Bruttoinlandsprodukt ein. Unser schnellster Konjunkturindikator ist aber der Lkw-Maut-Fahrleistungsindex, der in Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Güterverkehr und der Deutschen Bundesbank veröffentlicht wird.

Nun kommt die Umstellung auf t+30. Warum gerade jetzt?

Michael Kuhn: Wir haben uns bereits Anfang des Jahres dazu entschieden, mit dem Bruttoinlandsprodukt für das 2. Quartal 2020 zum ersten Mal das Ergebnis nach 30 Tagen zu veröffentlichen. Wesentliche Gründe waren damals, dass einerseits die Daten für die ersten beiden Monate eines Quartals nahezu die gleichen sind wie für die t+45-Schätzung und andererseits unsere Schnellschätzungen besser wurden, auch aufgrund schnellerer Auswertungen von Basisdaten. Gekoppelt wurde dies mit einer Anpassung unserer Schätzmodelle sowie mit der Einbeziehung von Expertenwissen. Damit können wir die Qualitätskriterien auch nach t+30 Tagen erfüllen.

Damals wussten wir natürlich nicht, dass die Corona Pandemie die deutsche Wirtschaft in eine schwere Krise stürzen würde. Die Corona-Pandemie unterscheidet sich von bisherigen Krisen durch den massiven und sehr abrupten Einbruch, zudem trifft die Krise Länder weltweit. Sowohl die inländische Wirtschaft wurde stark getroffen durch die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie, als auch der Außenhandel. In dieser Situation die Schnellschätzung des BIP durchzuführen, ist schwierig. Andererseits werden gerade in Krisenzeiten von den Nutzern aktuelle faktenbasierte Wirtschaftsdaten gewünscht. Vor diesem Hintergrund haben wir uns trotz Corona-Krise entschieden das BIP nach t+30 Tagen zu veröffentlichen. Dabei besteht das Risiko, dass unsere erst BIP-Schätzung nach Vorliegen weiterer Daten zu t+45 stärker überarbeitet werden muss als bisher. Aber wir haben robuste Konjunkturindikatoren, ein gutes Schätzmodell und nutzen wirtschaftlichen Sachverstand, um die Revisionen in engen Grenzen zu halten.

Albert Braakmann: Grundsätzlich schlägt in einer solchen Krisensituation die Stunde der Statistik. Reale Daten werden benötigt, um die Situation zu beurteilen und die richtigen Entscheidungen für Maßnahmen zur Krisenbewältigung treffen zu können. Gleichzeitig müssen diese Daten möglichst schnell verfügbar sein. Bei der Statistikproduktion gibt es aber fast immer einen Zielkonflikt zwischen Aktualität und Genauigkeit: Je aktueller wir sein wollen, desto mehr Schätzungen am aktuellen Rand sind nötig – gerade wenn beispielsweise Unternehmen ihre Daten nicht mehr melden können, weil sie selber mit der Krisenbewältigung beschäftigt sind oder schlichtweg stillliegen. All das sind Faktoren, die eine Schnellschätzung des BIP für das 2. Quartal 2020, also das zweite Krisenquartal, erschwert haben. Wir mussten hier eine schwierige Entscheidung treffen zwischen dem aktuellen sehr hohen Bedarf nach aktuellen Daten und der Verlässlichkeit unserer Schnellschätzung. Die ist im Moment einfach sehr schwer zu beurteilen. Die Analyse der Abweichungen zwischen t+30 und t+45 in der Vergangenheit kann uns da nur eingeschränkt helfen, weil die Rahmenbedingungen halt ganz andere sind.

Herr Kuhn, trotzdem haben Sie sich bewusst entschieden, an der geplanten Veröffentlichung nach 30 Tagen festzuhalten. Warum das?

Michael Kuhn: Wir wollen damit einen weiteren Beitrag dazu leisten, aktuelle Daten für die Wirtschafts- und Finanzpolitik zu liefern und damit faktenbasierte Entscheidungen zu ermöglichen. Außerdem haben unserer Kolleginnen und Kollegen in den Basisstatistiken auch hervorragende Arbeit geleistet und unterstützen uns mit schnelleren internen Auswertungen und auch mit schnelleren Veröffentlichungen. Das stützt unsere Berechnungen zu t+30. Das Vertrauen in die Qualität unserer Daten hat noch weitere Gründe. Zum einen haben die meisten Unternehmen auch in den letzten Krisenmonaten verlässliche Daten geliefert und damit dazu beigetragen, dass die wichtige Aufgabe der amtlichen Statistik erfüllt werden konnte und kann. Zum anderen haben unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den vergangenen Wochen und Monaten sehr gute Arbeit geleistet und trotz der Krise dafür gesorgt, dass die verwendeten Daten sorgfältig geprüft und aufbereitet worden sind. Zudem beobachten wir sehr genau die aktuellen Entwicklungen auch in einzelnen Branchen oder Unternehmen und leiten daraus auch Schätzungen ab. Wir gehen also auch in der aktuellen Situation von einer hohen Qualität des Bruttoinlandsprodukts und der dort einfließenden Konjunkturindikatoren aus. Und Aktualität ist im Übrigen genauso ein Qualitätskriterium wie Genauigkeit.

Herr Braakmann, der Vergleich zur Finanz- und Wirtschaftskrise wird in der aktuellen Debatte häufig gezogen. Sie haben gesagt, dass Schätzmodelle in Krisenzeiten nicht mehr oder nur sehr eingeschränkt funktionieren. Gibt es denn nicht doch Erfahrungen aus den Jahren 2008/2009, auf die man zurückgreifen könnte?

Albert Braakmann: Die Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009 resultierte ja aus einer Immobilienpreisblase in den USA, die dann zuerst auf die Finanzmärkte gewirkt hat. Und erst in der Folge hat sich das auch auf die Realwirtschaft bzw. die Produktion ausgewirkt. Während der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009 gab es teilweise größere Revisionen zwischen t+30 und t+45 als in normalen Quartalen. Durchschnittlich lag die Abweichung im Zeitraum 2. Quartal 2008 bis 4. Quartal 2009 zwar zwischen 0,3 und 0,4 Prozentpunkten. In einzelnen Quartalen gab es auch Abweichungen bis zu einem Prozentpunkt. Das sind dann Differenzen, bei denen wir uns fragen müssen, ob eine Schnellschätzung ausreichend genaue Ergebnisse liefert. Das ist auch der Grund, warum wir uns reiflich überlegt haben, ob wir die Schnellschätzung nach 30 Tagen tatsächlich wie geplant erstmals für das 2. Quartal 2020 veröffentlichen, also das Quartal, das von der Corona-Krise am stärksten betroffen sein dürfte. Aber der Bedarf an aktuellen Indikatoren für die Konjunkturbeobachtung ist gerade jetzt besonders hoch und wichtig. Dieser Verantwortung sind wir uns bewusst und wir haben uns entschieden, ihr auch nachzukommen.

Auch die Zahlen zum 3. Quartal 2020 werden mit Spannung erwartet, geben sie doch einen Hinweis darauf, wie die Maßnahmen zur Abfederung der Krise wirken. Was erwarten Sie?

Michael Kuhn: Wir veröffentlichen nun zu t+30, also am 30. Juli 2020 erstmals das Bruttoinlandsprodukt für das 2. Quartal 2020, also für die Monate April bis Juni. Das Konjunkturpaket der Bundesregierung tritt jedoch erst ab Juli 2020 in Kraft. Unser schnellster Wirtschaftsindikator, der Mautindex zeigt aktuell bereits Teilergebnisse für Juli; daraus lässt sich jedoch noch keine Auswirkung ablesen. Dazu scheint es aber auch noch zu früh. Anfang August werden dann wichtige Wirtschaftsdaten für Juli veröffentlicht, wie die Daten zur Produktion im Produzierenden Gewerbe, zum Einzelhandel und zum Außenhandel. Aber wenn wir nach China schauen, das ja etwa ein Quartal vor uns von der Corona-Pandemie getroffen wurde, können wir durchaus mit Optimismus auf das 3. Quartal blicken, denn hier gab es bereits im 2. Quartal ein kräftiges Wirtschaftswachstum.

Wie sieht es in Zukunft aus? Gibt es Potenzial für eine noch schnellere Schätzung? Wird es irgendwann vielleicht möglich sein, einen Nowcast, also eine Schätzung am aktuellen Rand zu veröffentlichen?

Michael Kuhn: Seit 2018 beschäftigen wir uns im Statistischen Bundesamt mit dieser Frage. Einen gesamtwirtschaftlichen Frühindikator, einen sogenannten Nowcast, haben wir als rein modellgestützte Schätzung auf Basis ökonometrischer Modelle konzipiert. Wie bei der BIP-Schnellschätzung sollen in der ersten Projektphase sogenannte ARIMA-Modelle unter Einbeziehung diverser Konjunkturindikatoren als externe Regressoren zum Einsatz kommen. Zudem soll die Modellierung bottom-up erfolgen.

Was heißt das genau?

Michael Kuhn: Das bedeutet, dass sich der Nowcast aus der Aggregation der Schätzungen verschiedener Teilaggregate des Bruttoinlandsprodukts ergibt. Natürlich ist ein gesamtwirtschaftlicher Frühindikator wünschenswert. Eine rein ökonometrische Schätzung der fehlenden Daten, die nur auf der Vergangenheit basiert, ist aber nicht angestrebt. In einen Nowcast der amtlichen Statistik für das Bruttoinlandsprodukt sollen möglichst auch Indikatoren über die tatsächliche Entwicklung bis an den aktuellen Rand eingehen. Die Digitalisierung schafft Möglichkeiten, sich weiter in diese Richtung zu bewegen. Digital verfügbare Kassendaten des Einzelhandels beispielsweise, sogenannte Scannerdaten, sind eine vielversprechende Datenquelle für die Preisstatistik. Unser schnellster Konjunkturindikator, der Lkw-Maut-Fahrleistungsindex, liegt dank digitaler Prozessdaten ja bereits nach spätestens neun Arbeitstagen vor und kann zu einer besseren Schätzung beitragen. Zusätzlich ist zu prüfen, ob bei einem Nowcast auch nicht-amtliche konjunkturelle Stimmungs- und Umfrageindikatoren, wie der ifo-Geschäftsklimaindex, und Indikatoren auf Basis neuer digitaler Daten, wie beispielsweise Stromproduktionsdaten oder Satellitendaten, die Ergebnisse verbessern. Diese Indikatoren werden bei der Schnellschätzung nach 30 und 45 Tagen nur am Rande einbezogen. Hier sind die amtlichen Indikatoren, die aus erhobenen Daten berechnet werden, die wesentliche Grundlage für die Berechnungen.

Albert Braakmann: Allerdings gilt das vorhin Gesagte: Je früher, desto größer der Schätzanteil und je größer die Unsicherheit beziehungsweise die potenzielle Ungenauigkeit. Wir müssen vermeiden, dass die Ergebnisse falsche Signale senden und letztlich die Gefahr besteht, dass auf ihrer Grundlage falsche Entscheidungen getroffen werden. In diesem Spannungsfeld bewegen wir uns natürlich dauerhaft und müssen die richtige Balance finden zwischen Aktualität und Genauigkeit.