Bisher wurden vorläufige Sterbefallzahlen für Deutschland mit einem Verzug von etwa vier Wochen dargestellt. Seit dem 9. Februar 2021 verwendet das Statistische Bundesamt ein neues Schätzmodell zur Hochrechnung der Daten, mit dem diese bereits nach etwa einer Woche veröffentlicht werden können. In unserem Podcast vom 23.03.2021 wird Ihnen das neue Verfahren genau erklärt.
In dem hier publizierten Podcast vom 30.Oktober 2020 wird noch das vorherige Verfahren der reinen Fallauszählung beschrieben.
Podcast vom 30. Oktober 2020:
Sterbefallzahlen und Übersterblichkeit während der Coronapandemie - der Podcast
Wie tödlich ist das Coronavirus Sars-CoV-2 wirklich? Und wie gefährlich ist die aktuelle Pandemie im Vergleich zu anderen Infektionskrankheiten? Diese Fragen beschäftigen seit Ausbruch des Coronavirus die Menschen – in Deutschland und auf der ganzen Welt. Antworten darauf liefern aktuelle Daten zu Sterbefällen in einem jeweiligen Land. Aber wie lässt sich Übersterblichkeit überhaupt berechnen? Wie aussagekräftig sind in diesem Zusammenhang vorläufige Zahlen? Und wie lassen sich die Corona-Folgen von denen einer Grippewelle unterscheiden? Darüber sprechen wir mit Dr. Felix zur Nieden, Experte für Demografie und Sterbefallzahlen im Statistischen Bundesamt.
Herr zur Nieden, mit dem Ausbruch der Corona-Krise ist Ihre Arbeit in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses gerückt. Wie haben Sie das wahrgenommen?
Uns war relativ schnell klar, dass unsere Zahlen relevant werden würden. In Italien ist die Pandemie in Europa ja als erstes ausgebrochen, und es wurden dort relativ viele Todesfälle gezählt im Zusammenhang mit COVID-19. Schnell kam die Frage auf: Wie schlägt das auf die Gesamtsterbefallzahlen durch? Sehen wir einen Effekt in einer ähnlichen Größenordnung, dass die Gesamtsterbefallzahlen in einem ähnlichen Ausmaß überhöht sind wie wir COVID-19-Todesfälle gemessen haben? Sind es vielleicht viel mehr, sind es viel weniger? Dieses Interesse an den Daten war da, Anfang März, schon sichtbar. Die Anfragen kamen nach aktuelleren Zahlen in Deutschland. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir Zahlen bis zum November 2019 veröffentlicht. Wir haben es als spannend und herausfordernd betrachtet, mit diesem große Interesse an den Daten umzugehen. Wir wollten der Öffentlichkeit natürlich die bestmöglichen Informationen so schnell wie möglich bereitstellen und mussten mit dieser großen Zahl an Anfragen zu Hintergrundinformationen und Daten so gut und geduldig wie möglich umgehen. Wir hatten Anfragen aus der Politik, der Wissenschaft, von Medien, aber auch von interessierten Bürgerinnen und Bürgern. Dadurch ergab sich immer wieder eine andere Sichtweise auf das Thema, mit der man sich auseinandersetzen musste.
Sie haben es angesprochen: Das öffentliche, politische und auch wissenschaftliche Interesse an aktuellen Daten, die die Auswirkungen der Pandemie auf die Gesamtzahl der Sterbefälle quantifizieren, war und ist immens. Wie haben Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen darauf reagiert?
Die Sterbefallstatistik ist traditionell so aufgestellt, dass man da eine buchhalterische Genauigkeit pflegt, also sehr präzise Daten liefert. Da geht es nicht nur um die absoluten Sterbefallzahlen, sondern auch um wirklich exakte Werte zum Geburtsdatum des Verstorbenen, dem Sterbedatum und allen weiteren Merkmalen, die im Zuge der Statistik erhoben werden. Wir haben dann das System abgeklopft und überlegt, wie wir die Daten so schnell wie möglich bereitstellen können. Und wie wir dabei vielleicht auch einen unkonventionellen Weg gehen können, um die aktuell drängenden Fragen zu beantworten. Unsere Überlegung war dann, die Daten direkt am Dateneingang abzugreifen, bevor sie plausibilisiert werden. Vieles passt in diesen Daten schon, aber in einigen Fällen sind noch Korrekturen notwendig. Wenn ein Merkmal fehlt oder eine unplausible Kombination auftritt, zum Beispiel das Sterbedatum vor dem Geburtsdatum liegt. Oder wenn ein Zahlendreher in der Nummer für den Wohnort ist – all diese Aspekte. Normalerweise wird das alles in mühevoller Kleinarbeit von den Statistischen Landesämtern in Rücksprache mit den Standesämtern bereinigt – das meinen wir mit Plausibilisieren. Wenn man aber nun einen direkten Überblick zu den Gesamtsterbefallzahlen bekommen möchte, also die drängendste Frage beantworten möchte: Wie stark schlägt Corona durch? – dann kann man mit diesen noch nicht plausibilisierten Rohdaten schon arbeiten. Seitdem veröffentlichen wir jede Woche unsere Sonderauswertung zu den Sterbefallzahlen inklusive aller Nachmeldungen, die im Laufe der Woche eingetroffen sind.
Sprechen wir einmal über die Ergebnisse aus dieser Sonderauswertung: Wie hat sich die Corona-Pandemie auf die Sterbefallzahlen ausgewirkt?
Effekte haben wir ab der letzten Märzwoche im Jahr 2020 gesehen und dann den ganzen April über: Da hatten wir deutlich erhöhte Sterbefallzahlen. Wenn man den April für sich betrachtet, so waren die Sterbefallzahlen 10 Prozent über dem Durchschnitt der Vorjahre. Diese Differenz zum Durchschnitt der Vorjahre passt sehr genau zu den gemeldeten COVID-19-Todesfällen beim RKI. Oberflächlich betrachtet lässt sich daraus schließen, dass andere Erklärungen für diese Erhöhung nur eine untergeordnete Rolle spielen können. Wenn man nochmal ein bisschen genauer in die Daten guckt, haben wir zwei auffällige Befunde. Zum einen war das Phänomen der Übersterblichkeit regional sehr stark fokussiert: Es ist vor allem in Bayern und in Baden-Württemberg aufgetreten. Andere Länder sind kaum beziehungsweise gar nicht betroffen gewesen. Wenn man sich das Ganze altersspezifisch anschaut, dann sind es vor allem die über 80-Jährigen, die davon betroffen waren. Dort lagen die Zahlen teilweise 20 Prozent über dem Vorjahres-Durchschnitt. Man muss allerdings berücksichtigen, dass mittlerweile mehr über 80-Jährige in Deutschland leben als in den letzten Jahren. Wenn man die Sterbefälle ins Verhältnis zur Bevölkerung setzt, ergeben sich immer noch erhöhte Sterberaten von 10 Prozent für diese Altersgruppe – und das trotz der Maßnahmen, die ergriffen wurden, um das Infektionsgeschehen so weit wie möglich einzudämmen.
Sie veröffentlichen also vorläufige Zahlen und Sie veröffentlichen sie früher als sonst, um das öffentliche Bedürfnis nach Aktualität zu befriedigen. Wie aussagekräftig sind diese Daten, etwa in Bezug auf Vollständigkeit?
Wir haben ja zuvor schon vorläufige Zahlen veröffentlicht, allerdings dann schon plausibilisiert und mit einem Verzug von etwa zweieinhalb Monaten. Auch da musste man noch in einem ganz geringen Umfang mit Nachmeldungen rechnen. Auch an den nicht plausibilisierten Daten kann man meines Erachtens schon vieles ablesen. Die größte Einschränkung ist tatsächlich die fehlende Vollständigkeit und vor allem auch, dass diese regional unterschiedlich ist. Wir veröffentlichen nun Daten, die einen Abstand von vier Wochen zum eigentlichen Sterbefallgeschehen haben. In einem Bundesland können die Daten dann schon nahezu vollständig sein, in einem anderen Bundesland fehlen dann noch mehr als 15 Prozent der Daten. Das heißt, am ganz aktuellen Rand kann man die regionale Entwicklung noch nicht abschließend beurteilen.
Für die Festlegung der Basismortalität als Bezugsgröße für die Messung von Übersterblichkeit ziehen Sie nur die vergangenen vier Jahre heran. Warum nicht einen längeren Zeitraum?
Unser Ziel ist es, die absoluten Sterbefallzahlen mit diesem Durchschnittsvergleich einzuordnen. Aber die Sterbefallzahlen hängen nicht nur von der Sterblichkeit und dem aktuellen Sterbegeschehen ab, sondern auch von der Größe und Altersstruktur der Bevölkerung. Ganz vereinfacht gesagt: Mehr Ältere, mehr Sterbefälle. Mittel- und langfristig ändert sich aber die Altersstruktur so stark, dass ein Vergleich mit den absoluten Zahlen irgendwann keinen Sinn mehr ergibt. Das ist nicht von Woche zu Woche der Fall, aber über mehrere Jahre betrachtet haben wir da schon starke Effekte. Selbst in diesem Vier-Jahres-Zeitraum muss man beachten, dass es Altersstruktur-Effekte gibt. Beispielsweise hat die Altersgruppe der über 80-Jährigen von 2016 bis 2019 um 15 Prozent zugenommen – von 4,9 auf 5,7 Millionen. Das muss man natürlich berücksichtigen. Auf der anderen Seite kann man nicht einfach einen Vergleich mit einem Vorjahr ziehen, weil die Auswirkungen von Grippewellen und Hitzewellen in jedem Jahr leicht unterschiedlich sind. Wenn wir nun einen Vier-Jahres-Zeitraum wählen, so ist das ein Kompromiss zwischen diesen beiden Aspekten: Wir berücksichtigen einerseits die Varianz in den Daten, die es zwischen den Jahren auch ohne Corona gibt. Auf der anderen Seite lassen wir die Altersstruktur-Effekte, die ich angesprochen habe, nicht zu stark werden.
Indem Sie die aktuellen Daten mit dem Durchschnitt der Vorjahre vergleichen, wählen Sie eine andere Methode als beispielsweise das europäische Mortalitätsmonitoring EuroMOMO, ein Projekt, das seit mehr als zehn Jahren die Übersterblichkeit in vielen Ländern Europas erfasst. Warum?
Wir legen ein großes Augenmerk darauf, diese Sterbefallzahlen erst einmal zu produzieren und so schnell wie möglich zur Verfügung zu stellen. Zusätzlich versuchen wir auch, eine erste, leicht verständliche Einordnung dieser Zahlen zu liefern. Die Betrachtung mit dem Vorjahresdurchschnitt ist für uns eine sehr transparente und nachvollziehbare Vorgehensweise. EuroMOMO ist ein Forschungsnetzwerk, das sich ursprünglich für die Fachöffentlichkeit aufgestellt hat. Es nutzt ein generalisiertes, lineares Poisson-Regressionsmodell, um erwartbare Verläufe in den Sterbefallzahlen zu schätzen. Das hat im Detail natürlich seine Berechtigung, ist aber eine sehr komplexe, wissenschaftliche Herangehensweise. Bei EuroMOMO muss man auch im Hinterkopf behalten, dass zeitgleich viele Länder ausgewertet werden und deshalb versucht werden muss, eine Form der Standardisierung zu finden. Da hat man andere Restriktionen, als wenn man ein Land nur für sich betrachtet. Wenn man von der Methode und den Schlussfolgerungen her denkt, führt dieser komplexe Ansatz nicht zu diametral anderen Schlussfolgerungen, als wenn man einfachere Durchschnittsbetrachtungen macht. Weil wir uns eben nicht nur an eine Fachwelt richten, sondern an eine breite Öffentlichkeit, haben wir uns für die leicht nachvollziehbare Durchschnittsberechnung entschieden.
Sie hatten es schon erwähnt: In den Jahren 2017 und 2018 haben Grippewellen zu einem Anstieg der Sterberate geführt, in diesem Sommer war die große Hitze für einen Anstieg der Zahlen im August verantwortlich. Wie lassen sich die unterschiedlichen Einflüsse auf die Sterbefallzahlen überhaupt voneinander abgrenzen? Und wie ist es angesichts einer Vielzahl von Faktoren überhaupt möglich, Aussagen in Bezug auf die Folgen der Corona-Pandemie zu treffen?
Das ist eine komplexe Fragestellung. Fangen wir vielleicht mit dem Beispiel Grippewelle an. Es gibt den Influenza-Saisonbericht vom RKI. Darin wird die grippebedingte Übersterblichkeit geschätzt. Das wird auch mit den Gesamtsterbefallzahlen gemacht – als Differenz zwischen dem, was erwartbar gewesen wäre, und dem, was tatsächlich während der Grippezeit passiert ist und an Gesamtsterbefällen erhoben wurde. Wenn wir nun auf die besonders starke Grippesaison 2017/2018 schauen, die besonders zu Beginn des Jahres 2018 durchgeschlagen hat, dann kommt bei dieser Rechnung eine Übersterblichkeit von ungefähr 25 000 Fällen heraus. Laborbestätigt wurden nur 1 700 Influenza-Tote in diesem Zeitraum gemessen. Die Annahme, die hinter der Schätzung steckt, ist, dass nicht alle influenzabedingten Sterbefälle tatsächlich als solche erkannt wurden. Auf dem Todesschein stand dann eine andere führende Todesursache. Dass aber zeitgleich so viele zusätzliche Sterbefälle passiert sind, kann eigentlich nur durch die Grippewelle erklärt werden. Dazu hat man auch Zusatzwissen aus anderen Quellen, beispielsweise, dass bei den Laborbefunden in den Praxen in dieser Zeit besonders oft eine Influenza festgestellt wurde. Unabhängig von Sterbefällen weiß man dadurch, dass die Grippe in dieser Zeit stark grassierte. Das ist ein bisschen das Ausschlussprinzip: Was könnte diesen hohen Anstieg an Sterbefällen in dieser Zeit sonst erklären, wenn nicht die Grippewelle? Bei den Corona-Auswirkungen, die wir im April gesehen haben, ist es im Prinzip ähnlich. Die Grippewelle galt zu diesem Zeitpunkt schon als beendet. Es ist vollkommen untypisch für diese Jahreszeit, dass Sterbefallzahlen so ansteigen, wie wir es 2020 beobachtet haben, und nicht zurückgehen. Zusätzlich passt auch die Differenz zum Durchschnitt der Vorjahre sehr gut zu den gemeldeten COVID-19-Todesfällen beim RKI. Das ist alles kein wasserdichter Beweis, macht aber den Zusammenhang sehr, sehr naheliegend. Entsprechend haben wir das dann auch in unseren Pressemitteilungen formuliert. Bei Hitzewellen ist es im Prinzip ähnlich. Man weiß, Hochaltrige leiden besonders unter hohen Temperaturen, haben entsprechend auch höhere Sterbewahrscheinlichkeiten, und wenn wir in den heißesten Wochen des Jahres besonders hohe Sterbefallzahlen sehen, geht man davon aus, dass es da einen Zusammenhang gibt. Das ist wieder diese Kombination aus Erfahrungswissen und Ausschlussprinzip: Was könnte die punktuelle Erhöhung, die wir im August 2020 gesehen haben, sonst erklären, wenn nicht die Hitzewelle, die zeitgleich war?
Das RKI veröffentlicht täglich die Zahl der an oder mit Covid-19 Gestorbenen. In welchem Zusammenhang stehen diese Daten mit Ihren Ergebnissen und wie funktioniert die Zusammenarbeit?
Im RKI steht bei den Todesfällen erst einmal das Meldedatum im Vordergrund, um wirklich schnell einen Gesamtüberblick zu haben in diesem Zusammenhang. Wenn wir zum Beispiel im Vergleich zum Vortag 40 Sterbefälle mehr haben, dann heißt das nicht, dass diese Menschen auch gestern gestorben sind, sondern dass sie gestern gemeldet wurden. Gestorben sind sie irgendwann zuvor, vielleicht vor einer Woche, vielleicht vor mehreren Wochen, in wenigen Fällen liegt der Tod vielleicht sogar noch länger zurück. Bei den Gesamtsterbefallzahlen schauen wir aber immer auf das Sterbedatum. Wenn wir nun ein sinnvolles Verhältnis zwischen diesen Sterbefällen im Zusammenhang mit COVID-19 und den Gesamtsterbefällen herstellen wollen, müssen die COVID-19-Sterbefälle natürlich auch nach Sterbedatum betrachtet werden. Sonst würden wir ja Äpfel mit Birnen vergleichen. Diese Zahlen standen zu Beginn der Pandemie nicht direkt zur Verfügung, mittlerweile sind sie aber beim RKI als Download verfügbar, in der Betrachtung nach Sterbewochen. Wir waren auch nicht die einzigen, die diese Perspektive für sinnvoll gehalten haben. Das RKI war sehr kooperativ und hat die Daten sehr schnell zur Verfügung gestellt – so wie wir sie für unsere Vergleiche gebraucht haben. Wir sind auch immer mal wieder im Austausch mit den Kolleginnen und Kollegen dort. Die arbeiten natürlich auch mit unseren Daten und haben entsprechende Fragen nach Hintergrundinformationen und Daten. Die Zusammenarbeit funktioniert sehr, sehr gut.
Sie haben den Unterschied zwischen Sterbe- und Meldedatum schon angesprochen. In diesem Zusammenhang noch eine andere Frage: Warum brauchen Sie vier Wochen, um aussagefähige Zahlen zu veröffentlichen?
Das ist ein Kompromiss zwischen Vollständigkeit und Aktualität, den wir machen. Es gibt den verbreiteten Wunsch, auf Knopfdruck die Sterbefallzahlen von gestern zu haben. Das gesetzlich geregelte Meldesystem funktioniert aber so nicht. Beispielsweise haben Angehörige drei Werktage Zeit, den Sterbefall ihres Angehörigen beim Standesamt anzuzeigen. Und diese Standesämter können den Fall erst an die amtliche Statistik weiterleiten, wenn er abschließend beurkundet wurde. Das kann in wenigen Fällen auch mehrere Wochen dauern, wenn zum Beispiel die Angehörigen die Geburtsurkunde des Verstorbenen nicht sofort beibringen können. Die muss aber vorliegen, damit der Sterbefall endgültig beurkundet werden kann. Für den Transfer vom Standesamt an die Statistischen Landesämter ist gesetzlich geregelt, dass mindestens monatlich geliefert werden muss. Im Prinzip kann also ein Monat vergehen von der Einlieferung bis zur nächsten Lieferung von Sterbefällen. Zusammengefasst kann man sagen: Der Weg der Daten verhindert eine noch schnellere Aufbereitung. Die Konsequenz davon ist: Wenn wir heute auf den Knopf drücken, den ich vorhin angesprochen habe, haben wir 1 Prozent aller Sterbefälle vom Vortag schon im System. Aber unvollständige Daten helfen niemandem weiter. Nach vier Wochen haben wir 97 bis 98 Prozent der Daten zusammen. Dann sind erste inhaltliche Aussagen möglich, ob die Sterbefälle in dieser Woche spürbar erhöht waren oder im Bereich des Durchschnitts liegen werden.
Ein Blick in die Zukunft noch zum Abschluss unseres Gesprächs, Herr zur Nieden: Welche neuen Erkenntnisse erhoffen Sie sich für die nächsten Monate, beispielsweise was gesichertere Zahlen angeht?
Die Zahlen aus den Rohdaten sehe ich schon als relativ gesichert an. Das haben wir auch gesehen, als wir die Rohdaten von 2019, die wir teilweise noch gesetzt hatten, durch endgültige Daten ersetzt haben. Das hatte kaum einen Einfluss, beispielsweise auf den Durchschnitt von 2016 bis 2019. Viele Effekte werden sich also mit den endgültigen Daten bestätigen. Was aber dann möglich ist sind tiefergreifende Analysen, wenn wir zum Beispiel die Bevölkerungszahlen in aller Ausführlichkeit zur Verfügung haben und dann die Sterbefälle ins richtige Verhältnis zur Bevölkerung setzen können. Dann bin ich natürlich sehr gespannt, welche Auswirkungen Corona und die Entwicklung 2020 auf weiterführende Maßzahlen hat, die man dann berechnen kann, etwa die Lebenserwartung. Das interessiert mich nicht nur in Bezug auf Deutschland, sondern auch auf viele andere Länder, wo wir teilweise noch massivere Auswirkungen von Corona auf die Sterbefallzahlen gesehen haben als in Deutschland – und das trotz teils noch gravierenderer Gegenmaßnahmen. Mir ist noch wichtig zu betonen, dass man vom Verlauf der Sterbefallzahlen nicht ableiten kann, was ohne die Maßnahmen passiert wäre. Das muss man stets im Hinterkopf behalten, wenn man die Gefährlichkeit der Pandemie mit Hilfe der Sterbefallzahlen berechnen möchte. Abschließend lassen sich die Auswirkungen der Pandemie sowieso erst beurteilen, wenn sie wirklich vorbei ist. Das heißt, wir müssen uns zumindest die Entwicklung der Zahlen noch im nächsten Jahr sehr genau anschauen, bevor wir da wirklich ein Fazit ziehen können.