Hauptstadtkommunikation Interview mit Prof. Dr. Dr. h.c. Monika Schnitzer, Vorsitzende des Sachverständigenrates Wirtschaft

Die Arbeit am neuen Jahresgutachten liegt nun hinter Ihnen. Sind Sie optimistisch, dass die Koalition Ihre Vorschläge aufgreifen wird? Oder hat sich die Ausgangslage nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Schuldenbremse zu stark verändert?

Schnitzer: Die Regierung ist verpflichtet, im Jahreswirtschaftsbericht zu den Vorschlägen des Sachverständigenrates und ihrer Umsetzung Stellung zu beziehen. Wir sind auch mit der Regierungs- und der Fachebene im regelmäßigen Austausch und werden gehört. Die Erfahrung zeigt, dass unsere Vorschläge häufig erst Jahre später aufgegriffen werden und es davon abhängt, wie viel Zeit die aktuelle Regierung noch hat, bevor es wieder in den Wahlkampf geht. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts dominiert aktuell natürlich die Debatte. Es hat für einige Unruhe und Unsicherheit gesorgt, Lösungen für die Haushaltsfrage müssen schnell gefunden werden. Die fiskalischen Spielräume sind durch das Urteil nochmals klar umrissen worden. Insofern hat die Gerichtsentscheidung auch mittel- und langfristig Auswirkungen auf das Regierungshandeln. Die Umsetzbarkeit unserer Vorschläge aus dem Jahresgutachten betrifft das nur bedingt, da wir die fiskalischen Spielräume immer im Blick haben.

Im letzten Kapitel des aktuellen Jahresberichts fordern Sie eine modernere Forschungsdateninfrastruktur und bessere Rahmenbedingungen für die amtliche Statistik. Welche Defizite sehen Sie hier insbesondere?

Schnitzer: Evidenzbasierte empirische Forschung und Politikberatung sind auf zuverlässige Daten angewiesen. Wir wissen schon sehr lange, dass die Dateninfrastruktur in Deutschland im internationalen Vergleich rückständig ist. Die COVID-Pandemie und die Energiekrise haben diesen Umstand für alle sichtbar offengelegt. Während der Pandemie wusste man nicht, wie stark sind welche Unternehmen betroffen, und in der Energiekrise fehlten hinreichend detaillierte Daten über Energieverbräuche und -kosten der privaten Haushalte. In beiden Fällen wurde so die zielgenaue Ausgestaltung von Unterstützungsmaßnahmen erschwert. Es werden viele Daten gar nicht erst erhoben. Es fehlt etwa eine hochfrequente Haushaltsbefragung oder Daten zum Gebäudebestand. Die erhobenen Daten sind für die Forschung oftmals nur sehr eingeschränkt zugänglich. Und es fehlt die Verknüpfung der verschiedenen Datenprodukte.

Sie sind auch Mitglied in der Kommission zur Zukunft der Statistik. Werden denn Statistikämter in Zeiten von KI, Big Data und Webscraping noch gebraucht?

Schnitzer: Der technologische Fortschritt hat das Fundament empirischer Forschung und evidenzbasierter Politikberatung in den letzten Jahren enorm erweitert. Der Zugang zu und die Erhebung von großen Datensätzen ist heute zum Teil per Knopfdruck möglich und Teil des täglichen Lebens geworden. Doch danach fängt die Arbeit häufig erst an. Daten müssen nutzbar gemacht, validiert und den gesetzlichen Vorschriften entsprechend aufbereitet werden. Gerade hier ist die Expertise und Qualitätssicherung des Statistikverbundes unverzichtbar. Ich sehe demnach eher einen verstärkten Ausstattungsbedarf der amtlichen Statistik. Im Jahresgutachten fordern wir deshalb einen Wechsel von einem input- zu einem outputorientierten Auftrag für den Statistikverbund, also mehr Verantwortung bei der Entscheidung, wie und welche Daten erhoben werden.

Der Sachverständigenrat Wirtschaft ist seit seiner Gründung eng mit dem Statistischen Bundesamt verbunden. Der wissenschaftliche Stab und die Geschäftsstelle des Sachverständigenrates arbeiten in den Räumlichkeiten des Bundesamtes in Wiesbaden. Was kennzeichnet die Zusammenarbeit und welche Chancen bietet sie mit Blick auf die Zukunft?

Schnitzer: Bei der Gründung des Sachverständigenrates vor 60 Jahren war für die Wahl des Hauptsitzes in Wiesbaden die räumliche Anbindung an das Statistische Bundesamt und die dort vorhandenen Daten ausschlaggebend. Die Zusammenarbeit mit dem Statistischen Bundesamt ist aus dieser Historie heraus besonders eng und wir profitieren sehr von der Expertise der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Die Bedeutung des Statistischen Verbundes für eine evidenzbasierte Politikberatung ist nicht zu überschätzen, das betonen wir in unseren Gutachten und öffentlichen Auftritten immer wieder und werden das auch weiterhin zu tun. Investitionen in die (Daten-)Infrastruktur des Statistischen Bundesamtes kommen uns, aber auch allen anderen Datennutzerinnen und -nutzern zu Gute und helfen letztlich der Politik, bessere und kosteneffizientere Entscheidungen zu treffen. Das zahlt sich aus.

Sie haben kürzlich per Pressemitteilung mitgeteilt, dass der Sachverständigenrat vom Wiesbadener Hauptsitz des Statistischen Bundesamtes in das Hauptstadtbüro des Amtes umzieht. Was spricht aus Ihrer Sicht für Berlin?

Schnitzer: Im Zeitalter digital verfügbarer Daten ist die räumliche Nähe von nachrangiger Bedeutung. Der persönliche Austausch wird in der wirtschaftspolitischen Debatte hingegen wichtiger, gerade wenn große wirtschaftliche Veränderungen zu bewältigen sind. Mit dem Standortwechsel verbindet der Sachverständigenrat die Chance, sich noch stärker als kritisch-konstruktives Beratungsgremium einzubringen. Die Analysen und Vorschläge des Sachverständigenrates zur Bewältigung der jüngsten Krisen haben gezeigt, dass er ein gefragter Gesprächspartner für die Politik ist. Dieser Austausch wird durch die Standortverlagerung weiter gefördert. Durch die Anbindung an das Hauptstadtbüro des Statistischen Bundesamtes wird die langjährige Verbindung zum Statistischen Bundesamt gesichert und die politische Unabhängigkeit des Sachverständigenrates gewahrt.

Das Hauptstadtbüro des Amtes liegt direkt am Checkpoint Charlie. Dieser Ort markierte früher die Grenze zwischen zwei konkurrierenden Wirtschaftssystemen. Sind die wirtschaftlichen Diskrepanzen von damals aus Ihrer Sicht nun gut 30 Jahre nach der Einheit weitgehend behoben?

Schnitzer: Angesichts der Lage, in der sich die ostdeutsche Wirtschaft zur Zeit der Wiedervereinigung befand, hat sie eine beeindrucke Entwicklung genommen. Der enorme Produktivitätsnachteil wurde gerade in den ersten beiden Dekaden nach der deutschen Einheit substantiell verringert und die anfängliche Massenarbeitslosigkeit abgebaut, auch dank notwendiger Arbeitsmarktreformen. Allerdings gibt es dort noch zu wenige große und innovative Unternehmen und somit immer noch eine substantielle Produktivitätslücke. Das schlägt sich auch in niedrigeren Löhnen nieder. Diese Lücke ist nach Bereinigung der Kaufkraft zwar kleiner, aber noch da und regional sehr unterschiedlich. Die Diskrepanz bei den Vermögen ist deutlich größer und stabiler, hier besteht noch enormer Aufholbedarf.

Sie und die anderen Ratsmitglieder beteiligen sich auch in den sozialen Medien aktiv an politischen Diskussionen, äußern Kritik und bringen auch eigene Vorschläge ein. Reicht ein Jahresgutachten heutzutage nicht mehr aus?

Schnitzer: Im Jahresgutachten adressieren wir, neben den gesetzlich vorgegebenen Themen, die aus unserer Sicht wichtigen, großen Fragen. Die Ausarbeitung erfordert jedes Mal enorm viel Aufwand und wir sind dankbar, dabei einen so tollen wissenschaftlichen Stab an unserer Seite zu haben. Gleichzeitig gibt es einen steigenden Bedarf an wirtschaftspolitischer Beratung außerhalb des Jahresgutachtens. Wir versuchen dem im Rahmen unseres Auftrags etwa mit anlassbezogenen Policy Briefs oder Stellungnahmen gerecht zu werden. Die Häufung und Wucht der Krisen in letzter Zeit hat sicher dazu beigetragen, dass wir aktuell häufiger nach Einschätzungen gefragt werden und dementsprechend präsenter sind.

Vielen Dank für das Interview!