Hauptstadtkommunikation Berliner Demografiegespräch:
Data Driven Policy – Datenbedarf in Krisenzeiten

Zuverlässig und aussagekräftig – Politik und Gesellschaft brauchen qualitativ hochwertige Daten, um fundierte Entscheidungen treffen zu können. Doch unvorhersehbare Krisen wie z.B. die COVID-19-Pandemie oder der Angriffskrieg auf die Ukraine stellen die amtliche Statistik und die Bevölkerungsforschung vor Herausforderungen. Im Krisenfall entstehen oft neue Bedarfe, insbesondere nach Daten am aktuellen Rand.

Das Berliner Demografiegespräch am 2. Mai 2023 mit Univ.-Prof. Dr. C. Katharina Spieß, Direktorin des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB), und Dr. Karsten Lummer, Abteilungsleiter Bevölkerung, Statistisches Bundesamt (Destatis), drehte sich daher um die Frage, wie Bevölkerungsforschung und amtliche Statistik ihren Beitrag leisten können, damit "Data Driven Policy" nicht nur ein Schlagwort bleibt. Moderiert wurde das Gespräch von Prof. Dipl.-Journ. Christina Elmer (TU Dortmund).

Destatis und BiB im Krisenmodus

Teilweise sind Behörden und Forschungseinrichtungen in den letzten Jahren diesem Bedarf gerecht geworden. Wie Dr. Lummer im Rahmen der Diskussion berichtete, wurde bei Destatis zum Beispiel nach Ausbruch der COVID-19-Pandemie die Veröffentlichung von Sterbefallzahlen mittels innovativer Ansätze und Digitalisierung massiv beschleunigt. Seinem Team gelang es, die Bereitstellung der Sterbefallzahlen von mehreren Monaten auf eine Woche zu reduzieren und die Datenlücke durch Hochrechnungen weitgehend zu schließen.

Um schneller Daten bereitstellen zu können, helfen zum Teil auch nicht-amtliche Datenquellen als Schätzgrundlage. Es sei aber, so Dr. Lummer, nicht immer einfach, neue aussagekräftige Datenquellen zu finden. Manche sind für den Krisenfall geeignet, weil die Datenqualität für ein Abschätzen der Lage ausreicht. So korrelieren beispielsweise Online-Bestellungen über Open Table stark mit dem Umsatz des Gastgewerbes. Verlässliche Indikatoren zu finden sei aber in vielen Fällen komplex.

Prof. Spieß betonte, dass gerade ein Bundesinstitut Forschung nicht nur um ihrer selbst willen betreibe, sondern auch den Anspruch habe, Politik und Gesellschaft gewinnbringend zu gestalten. So realisierte das BiB eine umfassende Studie zu den in Folge des Angriffskriegs auf die Ukraine in Deutschland ankommenden Ukrainerinnen und Ukrainer. Eine solch schnelle Reaktion auf einen sich veränderten Datenbedarf versetzt auch eine Institution in eine Art Krisenmodus: Es brauche engagierte Mitarbeitende, Gelder und Personal müssten kurzfristig anders eingesetzt werden.

Probleme erkennen und Strukturen verändern

Neu entstehende Datenbedarfe, insbesondere nach Daten am aktuellen Rand, enthüllen auch strukturelle Probleme in der Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Institutionen. Prof. Spieß und Dr. Lummer waren sich darin einig, dass ein Austausch an Daten und eine enge Zusammenarbeit mit verschiedenen Akteuren essenziell sei, oft schon gut funktioniere, aber eben noch viel besser funktionieren könne. Hierzu zähle auch die Möglichkeit, auf Verwaltungsdaten zuzugreifen und eigene Daten mit diesen Daten zu verknüpfen. Hier gäbe es in Deutschland noch enormes Potential.

Prof. Spieß wies zudem auf das Problem einer unüberblickbaren Landschaft an kleineren Studien hin, die bei akutem Datenbedarf entstehe. Das führe dazu, dass sich die Forschenden für abweichende Ergebnisse rechtfertigen müssen und mitunter bei Politik und Gesellschaft zu Verwirrung führen. Ihr Vorschlag ist daher, große Surveys wie z.B. auch den Mikrozensus zu nutzen, um flexible Module einzubauen, die dann für aktuelle Datenbedarfe genutzt werden könnten. Dr. Lummer bestätigte, dass man beim Mikrozensus und auch bei anderen amtlichen Erhebungen mehr Flexibilität brauche. Die gesetzlichen Grundlagen müssten angepasst werden, um mehr Gestaltungsspielraum bei den Erhebungen zu ermöglichen.

Die Diskussion stieß bei den gut 80 Gästen auf hohes Interesse, was sich auch an vielen Diskussionsbeiträgen zeigte. Prof. Spieß hob unter anderem auf die Frage welche neue Datenbedarfe man für die nächste Zeit antizipiere, insbesondere die verbesserten Möglichkeiten zur Verknüpfung von Daten und somit die bessere Berücksichtigung von Kontextfaktoren hervor. Hier spiele auch die Georeferenzierung von Surveydaten eine wichtige Rolle. Dr. Lummer unterstrich die Notwendigkeit flexiblerer Gesetzgebung, eben weil Vorhersagen so schwierig seien. Sicher seien aber auch in nächster Zeit Themen wie der Demografische Wandel und seine Folgen, Zuwanderung und die Auswirkungen des Klimawandels hoch im Kurs.

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Die Vortragsreihe "Berliner Demografiegespräche" ist ein Format unserer Hauptstadtkommunikation. Die Reihe richtet sich an Interessierte aus Politik, Wirtschaft und Verwaltung und informiert über Erkenntnisse aus amtlicher Statistik und Forschung.

Weitere Informationen zum Thema

 

 

 

 


Univ.-Prof. Dr. C. Katharina Spieß ist seit 2021 Direktorin des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB). An der Johannes Gutenberg–Universität Mainz ist sie Univ.-Professorin für Bevölkerungsökonomie. 2006 bis 2021 hatte sie die Universitätsprofessur für Familien- und Bildungsökonomie an der Freien Universität Berlin inne. Die Abteilung Bildung und Familie am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) leitete sie von 2012 bis 2021.

Im Mittelpunkt ihrer Forschung stehen bildungs- und familienökonomische Fragestellungen. Ein besonderer Schwerpunkt ihrer Forschung liegt auf dem Gebiet der frühkindlichen Bildung und Betreuung.




Dr. Karsten Lummer ist seit 2021 Abteilungsleiter der Abteilung F "Bevölkerung" im Statistischen Bundesamt (Destatis). Diese Abteilung umfasst neben den Bevölkerungs- und Haushaltsstatistiken auch den Zensus und den Aufbau eines Registerzensus. Zudem ist er nebenamtlicher Direktor des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB). Der Diplom Chemiker und promovierte Biotechnologe war zuvor in der Telekommunikationsbranche in verschiedenen Positionen in IT und Finance tätig. In diesem Rahmen verantwortete er verschiedene Entwicklungs- und Transformationsprojekte auf nationaler und internationaler Ebene.




Christina Elmer ist Professorin für Digitalen Journalismus und Datenjournalismus an der TU Dortmund. Zuvor arbeitete sie in unterschiedlichen Positionen in der Redaktion des SPIEGEL, zuletzt als stellvertretende Entwicklungschefin. Von 2017 bis 2019 gehörte sie zur Chefredaktion von SPIEGEL ONLINE. Sie ist zweite Vorsitzende des Vereins Netzwerk Recherche und wurde vom MEDIUM MAGAZIN als „Wissenschaftsjournalistin des Jahres 2016“ ausgezeichnet. Weitere Stationen als Datenjournalistin im Team Investigative Recherche des Magazins STERN und bei der DPA sowie als Volontärin beim WDR in Köln und Münster. Studium der Journalistik und Biologie an der TU Dortmund.