Hintergrund
28.11.2022 - In den letzten Jahren hat sowohl die Verfügbarkeit als auch die Nachfrage nach hochaktuellen Daten stark zugenommen. Gerade in Zeiten von aktuellen Krisen wie der Coronapandemie oder dem Ukraine-Krieg zeigt sich die Notwendigkeit von faktenbasierten Wirtschaftsdaten für Nutzende aus Politik, Wissenschaft, Gesellschaft, Wirtschaft und Medien. Um konjunkturelle Entwicklungen frühzeitig abbilden zu können, veröffentlicht das Statistische Bundesamt das Bruttoinlandsprodukt (BIP) seit Juli 2020 bereits 30 Tage nach Quartalsende (Flash Estimate). Für die höhere Aktualität werden Zuschätzungen benötigt. Um diese Zuschätzungen zu verbessern und um die BIP-Schnellschätzungen zukünftig noch weiter zu beschleunigen (vom Flash Estimate zum Nowcast), sollen weitere neue digitale Daten erschlossen werden. Die Ergebnisse der ersten Projektphase wurden im Wissenschaftsmagazin WISTA in der Ausgabe 6/2019 unter dem Titel "Vom BIP-Flash zum BIP-Nowcast: Erste Ergebnisse einer Machbarkeitsstudie zur weiteren Beschleunigung der BIP-Schnellschätzung" veröffentlicht. Zu diesen Daten zählen unter anderem Satellitendaten. Die Idee hinter der Nutzung von Satellitendaten für Konjunkturstatistiken ist, dass wirtschaftliche Aktivitäten optische Spuren hinterlassen, die von Satelliten erfasst und darauf basierend quantifiziert werden können. Satelliten können heutzutage Gebiete großflächig und in kurzen zeitlichen Abständen aufnehmen. So sind Informationen aus Satellitendaten schnell und auf kleinräumiger Ebene verfügbar. Zudem sind Analysen über administrative Grenzen ohne methodische Brüche möglich.
Im Rahmen des Projekts "Smart Business Cycle Statistics" (SBCS) wurde geprüft, inwiefern Informationen aus Satellitenbildern für die Erstellung von Konjunkturzyklen genutzt werden können. Die Ergebnisse sind in dem EXSTAT-Beitrag "Smart Business Cycle Statistics mit Satellitendaten" beschrieben. Beispielhaft sollte die Gesamtzahl der geparkten Autos vor Einzelhandelsgeschäften in einem Testgebiet untersucht werden. Limitierender Faktor hierbei war die mangelnde Verfügbarkeit von Satellitenbildern in der nötigen räumlichen und zeitlichen Auflösung zur automatisierten Erkennung von kleinen Objekten. Eine Übersicht über verschiedene Qualitätsstufen und Auflösungen von Satellitenbildern kann dem EXSTAT-Beitrag zum SBCS-Projekt entnommen werden. Seitdem haben sich jedoch sowohl die Verfügbarkeit von Satellitendaten als auch die Auswertungsmöglichkeiten verbessert, sodass in dieser Machbarkeitsstudie "Satellitengestützte Konjunkturschnellschätzung" konkret die Frage untersucht wird, inwiefern Informationen aus Satellitendaten genutzt werden können, um Konjunkturschnellschätzungen des Statistischen Bundesamtes zu unterstützen.
Daten
Die Grundlage des Projekts ist die Untersuchung von satellitenbasierten Wirtschaftsindikatoren, die extern erstellt und vom Statistischen Bundesamt bezogen werden. Eine der Datenquellen ist die Europäische Weltraumorganisation (ESA). Im Zuge der Pandemie hat die ESA das Dashboard "The Rapid Action on Coronavirus and Earth Observation" (RACE) veröffentlicht. Das Dashboard zeigt, wie mit Hilfe von Fernerkundungsdaten, bodengestützten Beobachtungen und numerischen Modellen sozioökonomische und ökologische Veränderungen veranschaulicht werden können. Auf dem Dashboard werden Indikatoren zu den Themen Landwirtschaft, Gesundheit, Luftqualität, Wasser und Wirtschaft für verschiedene europäische Länder veröffentlicht. Für Deutschland werden insgesamt 10 verschiedene Indikatoren auf dem Dashboard veröffentlicht, unter anderem ein Indikator, der die Produktion von Fahrzeugen an 15 Standorten in Deutschland abbildet, fortan als ESA-Indikator für Fahrzeugbau bezeichnet.
Für diesen Indikator werden Radardaten der Sentinel-1-Satelliten des europäischen Erdbeobachtungsprogramms "Copernicus" genutzt. Die beiden Satelliten Sentinel-1A und Sentinel-1B tragen jeweils einen Synthetic Aperture Radar (SAR), wodurch Informationen über die Erdoberfläche unabhängig von Helligkeit und Wolkenbedeckung geliefert werden können. Die Sensoren dieser Satelliten senden Radarstrahlen auf die Erdoberfläche aus, die abhängig von den Absorptions- und Reflexionseigenschaften der Objekte, auf die die Strahlung trifft, mit unterschiedlicher Intensität zurückgestreut und vom Satellitensensor wieder empfangen werden. Die Idee hinter der Nutzung von SAR-Daten ist demnach, dass die Rückstreuintensität vom Material der Objekte abhängt, sodass die Variation der Rückstreuintensität Aufschluss darüber geben kann, was sich an dem beobachteten Standort befindet.
Für den ESA-Indikator für Fahrzeugbau werden Fertigungsparkplätze von Automobilproduktionsstätten beobachtet. Fahrzeuge weisen durch ihre metallischen Eigenschaften eine hohe Rückstreuintensität auf. Je mehr Fahrzeuge auf den Fertigungsparkplätzen stehen, desto höhere Rückstreuintensitäten werden durch die Satelliten wahrgenommen. Demnach kann die Variation in der Rückstreuintensität als Indikator dienen, wie viele Objekte zu einem bestimmten Zeitpunkt auf Fertigungsparkplätzen von Automobilherstellern vorhanden sind.
Abb. 1
Für die Berechnung des Indikators werden von der ESA sogenannte "Areas Of Interest" (AOI) manuell ausgewählt und für die markierten AOI-Zeitreihen der Radarrückstreuwerte aus den Sentinel-1-Daten extrahiert. Die Sentinel-1-Satelliten haben eine Überflugrate von 6 - 12 Tagen. Das bedeutet, dass die AOI alle 6 - 12 Tage überflogen und auch in diesem Rhythmus Daten gewonnen werden. Für jede AOI wird unter Berücksichtigung von potenziellen radiometrischen Artefakten ein räumlicher Mittelwert pro Beobachtungsdatum berechnet. Aktuell stehen für Deutschland Daten zu 15 Standorten für den Zeitraum 2017 bis August 2022 zur Verfügung. Die Standorte sind über Deutschland verteilt (Verteilung auf die Bundesländer: 2 x Baden-Württemberg, 3 x Bayern, 1 x Bremen, 1 x Hessen, 2 x Niedersachsen, 1 x Nordrhein-Westfalen, 1 x Saarland, 3 x Sachsen, 1 x Thüringen).
Die Entwicklung des ESA-Indikators für Fahrzeugbau könnte Rückschlüsse auf die Produktion im Fahrzeugbau ermöglichen. Der Fahrzeugbau macht einen großen Anteil des produzierenden Gewerbes aus. Laut Pressemitteilung vom 22.02.2021 des Statistischen Bundesamtes gingen 2020 22,8 % des Gesamtumsatzes aller Industriebetriebe in Deutschland auf dem Umsatz durch die Herstellung von Kraftwagen und Kraftwagenteilen zurück. Demnach könnte der ESA-Indikator für Fahrzeugbau, der die Anzahl von Autos auf Fertigungsparkplätzen darstellt, als wirtschaftlicher Frühindikator die Konjunkturschnellschätzung unterstützen. Dafür wird im Folgenden untersucht, ob dieser ESA-Indikator den amtlichen Produktionsindex im Fahrzeugbau abbilden kann.
Analyse
Um den auf monatlicher Basis veröffentlichten amtlichen Index dem satellitenbasierten Indikator gegenüber stellen zu können, muss letzterer zuerst auf das gleiche Zeitintervall aggregiert werden. Dazu wird über alle 15 Standorte, für die die ESA diesen Indikator veröffentlicht, ein monatlicher Mittelwert errechnet. Der Verlauf der monatlich aggregierten Zeitreihen ist in der Abbildung 2a (ESA-Index) und Abbildung 2b (amtlicher Produktionsindex) dargestellt. Ein genereller Abwärtstrend über den Zeitraum von 2017 bis August 2022 ist bei beiden Zeitreihen sichtbar.
Abb. 2a
Abb. 2b
Die nachstehende Abbildung 3 zeigt, dass auch die Veränderungsraten des satellitenbasierten Indikators und des amtlichen Produktionsindex im Fahrzeugbau ähnlich verlaufen, ein möglicher Zusammenhang ist erkennbar. Klar erkennbar ist auch der starke Rückgang im Frühjahr 2020, bedingt durch die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie, und der daraus resultierende starke Anstieg im Jahr darauf.
Abb. 3
In Abbildung 4 wird deutlich, dass sich die Veränderungen der auf Satellitendaten basierten Anzahl an Fahrzeugen auf Fertigungsparkplätzen grundsätzlich passend zu den Ereignissen in der Produktion wie Kurzarbeit oder Produktionsstopps entwickelt.
Abb. 4
Neben einer grafischen Gegenüberstellung weisen auch die Ergebnisse einer bivariaten Korrelationsanalyse auf einen Zusammenhang zwischen dem satellitenbasierten Indikator und dem amtlichen Index hin. Untersucht werden in der Gegenüberstellung sowohl die absoluten Werte als auch die Veränderungsraten. In Abbildung 5a und 5b sind die statistischen Zusammenhänge graphisch dargestellt.
Wie Abbildung 5a und 5b und die Korrelationskoeffizienten in der Tabelle zeigen, lässt sich ein statistisch signifikanter Zusammenhang zwischen dem satellitenbasierten Indikator für die Anzahl von Fahrzeugen und dem amtlichen Produktionsindex im Fahrzeugbau identifizieren. Dies gilt für den Vergleich der absoluten Werte und dem der Veränderungsraten. Ebenfalls zeigt sich, dass der statistische Zusammenhang bestehen bleibt, wenn nur der Zeitraum vor den massiven Einschnitten durch Coronaverordnungen betrachtet wird. Somit scheint der Zusammenhang nicht ausschließlich durch die Ausreißer im Pandemiezeitraum zu entstehen. Die Korrelationsanalyse bestätigt somit den ersten Eindruck aus der grafischen Gegenüberstellung, dass der satellitenbasierte Indikator geeignet sein könnte, den amtlichen Produktionsindex im Fahrzeugbau abzubilden.
Abb. 5a
Abb. 5b
Zeitraum | absolute Werte | Veränderungsraten zum Vorjahresmonat1 |
---|---|---|
1: Veränderungsrate beginnend mit Januar 2018. Der Wert für Januar 2018 beschreibt die Veränderung im Vergleich zu Januar 2017. Da sich die Veränderungsraten immer auf das Vorjahr beziehen, gibt es keine Werte für 2017. | ||
Januar 2017 bis August 2022 | 0,74 | 0,59 |
Januar 2017 bis Februar 2020 | 0,48 | 0,54 |
Fazit
Die ersten Ergebnisse deuten darauf hin, dass es zwischen dem untersuchten ESA-Indikator für Fahrzeuge auf Fertigungsplätzen basierend auf Satellitendaten und dem amtlichen Index für Produktion einen Zusammenhang gibt. Allerdings müssen einige Einschränkungen beachtet werden, sodass der hier untersuchte satellitenbasierte Indikator noch nicht als experimenteller, ergänzender Konjunkturindikator genutzt werden kann. Bisher wurden nur die ursprünglichen, nicht saisonbereinigten Werte miteinander verglichen. Häufig sind Konjunkturindikatoren aber stark durch saisonale Effekte beeinflusst, die die eigentlichen konjunkturellen Bewegungen verdecken könnten. Insgesamt zeigt sich aber, dass der ESA-Indikator durchaus das Potenzial haben könnte, eine Konjunkturschnellschätzung auf experimenteller Basis zu unterstützen, wenn die aktuell bestehenden Einschränkungen gelöst und die bisherigen Ergebnisse in weiteren Untersuchungen bestätigt werden können.
Aufgrund der ersten positiven Ergebnisse und um die oben erwähnten Einschränkungen zu reduzieren, soll der Ansatz der Nutzung von Satellitendaten zur Erstellung von Konjunkturfrühindikatoren weiterverfolgt werden. Dazu sollen in den nächsten Schritten zum einen die bisherigen Analysen ausgeweitet und verbessert werden: Hierzu soll einerseits eine Saisonbereinigung der satellitenbasierten Daten durchgeführt werden, um diese mit den bereinigten Reihen des Produktionsindex besser vergleichen zu können. Andererseits soll der ESA-Indikator weiteren Indikatoren z. B. für die Lagerhaltung und Produktionsmenge gegenübergestellt werden.
Basierend auf den bisherigen, positiven Ergebnisse soll zudem untersucht werden, inwiefern der satellitenbasierte Indikator nicht nur einzelne amtliche Indizes abbilden kann, sondern auch konkret zur Unterstützung der Schätzung von gesamtwirtschaftlichen Indikatoren geeignet ist, beispielsweise im Rahmen des BIP-Nowcast Projekts.