Experimentelle Statistiken Schnellindikator Arbeitsmarkt: LinkedIn Hiring Rate

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Aktuelle Daten des Indikators finden sich im Pulsmesser für die Wirtschaft

LinkedIn Hiring Rate: Hintergrund

Seit Ausbruch der Coronapandemie im Frühjahr 2020 sowie durch die Folgen des russischen Angriffskrieg in der Ukraine ist das gesellschaftliche und politische Interesse an schnell verfügbaren wirtschaftlichen Indikatoren merklich gestiegen. Dabei stehen in Krisenzeiten die Auswirkungen auf die Beschäftigung häufig im Fokus. Die verfügbaren traditionellen Arbeitsmarkt-Frühindikatoren bilden dabei häufig nur die Bereitschaft der Unternehmen ab, neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einzustellen (zum Beispiel ifo Beschäftigungsbarometer, Indikatoren aus Stellenanzeigen und Ähnliches). In Zeiten des Fachkräftemangels und einem Nachfrageüberhang auf dem Arbeitsmarkt wird allerdings ein Indikator benötigt, der auch das realisierte Arbeitsangebot der Menschen in Deutschland berücksichtigt.

In Zusammenarbeit mit LinkedIn, dem weltweit größten digitalen Netzwerk für beruflichen Austausch, hat das Statistische Bundesamt Arbeitsmarkt-Schnellindikatoren entwickelt, die auf statistisch erfassten Aktivitäten auf der LinkedIn-Plattform beruhen. Dabei ist es auch Ziel des Projekts zu quantifizieren, inwieweit Aktivitäten auf der Plattform mit über 19 Millionen aktiven Mitgliedern im deutschsprachigen Raum aktuelle Trends auf dem Arbeitsmarkt frühzeitig abbilden können. Das zugrundeliegende Konzept für den Indikator ist die sogenannte LinkedIn Hiring Rate (LHR). Sie stellt dar, welcher Anteil der aktiven Mitglieder des Netzwerks innerhalb eines gegebenen Monats auf ihrem Profil einen neuen, aktuellen Arbeitgeber hinzufügen. Zusätzlich wird der Indikator noch auf ein Basisjahr (2016) standardisiert:

Ein solcher Indikator kann potenziell sehr zeitnah Informationen über neue Arbeitsverhältnisse liefern. Zusätzlich lässt er sich theoretisch nach einer Fülle von Merkmalen berechnen, die jeweils in LinkedIn-Profilen hinterlegt sind. Dazu zählen beispielsweise der Wirtschaftsbereich der Aktivität oder das Bundesland. Eine erste Analyse zeigt allerdings auch auf, dass die Berechnung für den deutschen Arbeitsmarkt nur monatlich sinnvoll ist, da in Deutschland die meisten Beschäftigungsverhältnisse jeweils zum Ersten eines Monats beginnen. Eine wöchentliche oder gar tägliche Darstellung ist daher kaum sinnvoll.

Mit Blick auf die Interpretation ist es wichtig zunächst festzuhalten, dass es sich bei der Hiring Rate um ein Maß für den Eintritt in eine neue Erwerbstätigkeit handelt, also um eine Stromgröße. Sie sagt beispielsweise nur indirekt etwas über die absolute Zahl an Erwerbstätigen aus. Ein steigender Verlauf deutet zum Bespiel eine Zunahme neuer Erwerbstätiger an, vermittelt aber nichts über Austritte aus der Erwerbstätigkeit. Ein sinkender Verlauf weist hingegen nicht unbedingt auf eine Abnahme der Erwerbstätigkeit hin, sondern deutet zunächst nur an, dass es weniger neue Erwerbstätige gibt. Da keine Informationen zur Zahl der Austritte aus der Erwerbstätigkeit gewonnen werden können, können aus dem Indikator keine Aussagen zur absoluten Änderung der Zahl an Erwerbstätigen abgeleitet werden.

Abbildung 1:

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Eine grafische Darstellung des Indikators für ganz Deutschland für die Jahre 2016 bis Januar 2023 (Abbildung 1) zeigt eine klare Saisonfigur, einen Einbruch in der ersten Coronawelle 2020 sowie ansonsten einen positiven Trend für die Jahre 2016 bis 2021. Seit dem Frühjahr 2022 deutet sich eine Trendumkehr an (was eine Verlangsamung des Zuwachses an eingegangenen Arbeitsverhältnissen bedeuten würde).

Vergleich mit dem tatsächlichen Übergang in die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung

Um die Qualität des Indikators besser einordnen zu können, werden vergleichbare und für Deutschland repräsentative Daten benötigt. Eine Sonderauswertung der Bundesagentur für Arbeit beinhaltet alle Übergänge in die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung, sowohl aus der Erwerbslosigkeit, einer anderen Erwerbstätigkeit – sozialversicherungspflichtig oder nicht – als auch aus der Nichterwerbstätigkeit. Somit kommen diese Zahlen dem wahren Wert, den die LHR idealerweise abbildet, sehr nahe. Da sie auf Daten der Sozialversicherungen beruhen und somit eine Vollerhebung darstellen, sind sie auch qualitativ als Referenz zu betrachten. Bezüglich ihrer Aktualität ist diese Auswertung aber nur mit ca. 6 Monaten Verzug verfügbar und somit als Frühindikator nicht geeignet.

Abbildung 2:

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Abbildung 2 zeigt die ebenfalls auf 2016 standardisierte Sonderauswertung der Bundesagentur für Arbeit seit 2010 im Vergleich mit der LHR, die für die Jahre ab 2016 zur Verfügung steht. Die Darstellung legt nahe, dass die beiden Statistiken korreliert sind und eine ähnliche Saison zeigen. Während jedoch die Vergleichsdaten für die Jahre 2010 bis 2021 ebenfalls einen positiven Trend aufweisen, ist dieser deutlich schwächer ausgeprägt als in den LinkedIn Daten. Ein möglicher Grund für die Abweichung könnte sein, dass die LinkedIn-Nutzende in Deutschland keine zufällige Stichprobe aus der Erwerbsbevölkerung darstellen, sondern auf dem Arbeitsmarkt besonders aktiv sind und häufiger Tätigkeiten wechseln als die durchschnittliche Erwerbsperson. Eine weitere Erklärung wäre, dass die Nutzung von LinkedIn mit der Zeit intensiver wird und somit Profile auch zunehmend aktueller gehalten werden.

Bei einem Vergleich in Vormonatsveränderungen kommt der Trend nur als minimaler Niveauunterschied zum Tragen. Dadurch kann genauer aufgezeigt werden, inwieweit die zugrundeliegende Dynamik der LinkedIn-Profiländerungen zu den Referenzdaten passt. Abbildung 3 bestätigt einen vielversprechenden Zusammenhang und somit das Potenzial, kurzfristig Aussagen über den Arbeitsmarkt aus dem LinkedIn-Indikator abzuleiten (Korrelationskoeffizient=0,84, p<0,00).

Abbildung 3:

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Um besser zu verstehen, welche Informationen in dem Indikator enthalten sind und wie die Stichprobe der Nutzerinnen und Nutzer verzerrt ist, bietet sich ein Vergleich nach Wirtschaftsbereichen an1. Da der Unterschied der Hiring Rate zu den Referenzdaten vor allem auch im abweichenden Trend begründet liegt, ist dies ein logischer erster Ansatzpunkt für eine Analyse nach Branchen (Abbildung 4). Tatsächlich ist der Trend in den meisten Wirtschaftsbereichen in der LHR stärker ausgeprägt. Zu welchem Grad der Trend allerdings auf Verzerrungen in der Auswahl der LinkedIn-Nutzende und zu welchem auf andere mit der Nutzung der Plattform einhergehende Effekte zurückgeht, lässt sich nicht abschließend klären.

Abbildung 4:

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Der Vergleich der Korrelation der Vormonatsveränderungen nach Wirtschaftsbereichen (Abbildung 5) zeigt, dass die LHR für informationsintensive Dienstleistungsbereiche die zugrundeliegenden Bewegungen auf dem Arbeitsmarkt besonders gut abbildet. In diesen Bereichen ist der Indikator also besonders nützlich. Hingegen für Branchen wie das Baugewerbe, den Bergbau sowie Erziehung und Unterricht funktioniert er vergleichsweise schlecht. Der direkte grafische Vergleich zeigt allerdings auch, dass die LinkedIn-Daten im am wenigsten korrelierten Bereich Erziehung und Unterricht (WZ-Abschnitt P) etwas über die tatsächliche Entwicklung von Neueinstellungen auszusagen scheinen (Abbildung 6). Der Zusammenhang in dem am stärksten korrelierten Wirtschaftsbereich J (Information und Kommunikation) ist im Vergleich natürlich noch überzeugender.

Abbildung 5:

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Abbildung 6:

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Die LinkedIn Daten bilden manche Wirtschaftsbereiche besser ab als andere. Ungenauigkeiten in der gesamtwirtschaftlichen Betrachtung rühren dabei vermutlich zu einem großen Teil von denjenigen Wirtschaftsbereichen, die weniger repräsentativ auf LinkedIn vertreten sind. Nichtsdestotrotz scheint klar, dass die Daten messbare Informationen über die tatsächlichen Neueinstellungen enthalten. Die Frage ist, wie sich diese Informationen am besten nutzen lassen.

Darstellung der Arbeitsmarkt-Konjunktur (Hodrick Prescott-Filter)

Eine Möglichkeit ist, angesichts des nur sehr flachen langfristigen Trends in den Referenzdaten ganz von der langfristigen Aufwärtsbewegung abzusehen. Mittelfristige Abweichungen von der langfristigen Entwicklung lassen sich dabei als konjunkturelle Bewegungen interpretieren und können als Schnellindikator genutzt werden. Um diese konjunkturellen Informationen bestmöglich zu extrahieren, bietet sich eine Transformation mithilfe des sogenannten Hodrick Prescott-Filters an2. Dabei wird die saisonbereinigte Zeitreihe in eine Trend- und eine Zykluskomponente aufgespalten, wobei letztere nur noch den konjunkturellen Zyklus und sonstige kurzfristige Effekte darstellt (Abbildung 7). Der Konjunkturzyklus wird üblicherweise als mehrjährige zyklische Schwankung der Reihenwerte um einen langfristigen Entwicklungspfad (Trend) definiert und als prozentuale Abweichung von letzterem dargestellt: Ein Wert von z.B. 7 bedeutet eine Abweichung vom langfristigen Trend um +7 % und somit eine konjunkturelle Hochphase bei den Neueinstellungen. Diese Darstellung entspricht jener im Konjunkturmonitor des Statistischen Bundesamts.

Abbildung 7:

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Abbildung 8 zeigt, dass die so konstruierte konjunkturelle Darstellung die tatsächliche Konjunktur der Neueinstellungen, die sich aus den Referenzdaten ergibt, gut approximiert. Die durchschnittliche Abweichung vom tatsächlichen Wert beträgt allerdings immerhin 3,4 Prozentpunkte. Vor allem scheinen aber konjunkturelle Wendepunkte – soweit das in dem bisher betrachtbaren Zeitraum zu beurteilen möglich ist – gut erkannt zu werden. Dies gilt auch für die meisten WZ.

Abbildung 8:

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Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die LHR frühzeitig verwertbare Informationen über die Neueinstellungen und somit den Arbeitsmarkt in Deutschland liefern kann. Da es sich um "natürlich vorkommende", nicht-repräsentative Daten eines Sozialen Netzwerks handelt, dessen Nutzung völlig freiwillig ist, weisen die Daten Verzerrungen auf und bilden bestimmte Bereiche des Arbeitsmarktes besser ab als andere. Nichtsdestotrotz stellt der LinkedIn-Indikator eine sinnvolle Ergänzung zu den bisher verfügbaren Indikatoren dar, auch weil er im Gegensatz zu den meisten anderen das Zusammenkommen von Arbeitsangebot und -nachfrage abbildet.

Da die Zahl der Nutzerinnen und Nutzer der Plattform LinkedIn sowie deren Nutzung stetig steigt, ist davon auszugehen, dass diese erste Beurteilung der Daten nicht als endgültig betrachtet werden kann und dass die Qualität der LHR tendenziell steigen wird. Auch gibt es sicherlich noch weitere Daten des Sozialen Netzwerks, beispielsweise zur Arbeitssuche, die möglicherweise nützliche Informationen zum Arbeitsmarkt beisteuern könnten.

Insgesamt hat dieser Indikator das Potenzial, sowohl im experimentellen Datenangebot und im Pulsmesser für die Wirtschaft (Teil des Dashboards Deutschland) angeboten zu werden als auch die Beschleunigung der amtlichen Ergebnisbereitstellung von Erwerbstätigenzahlen zu unterstützen.

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1: Für die LinkedIn-Daten werden die Arbeitsverhältnisse mithilfe der jeweils angegeben Arbeitgeber und deren ebenfalls auf der Plattform hinterlegten Profilen den Wirtschaftsbereichen zugeordnet.

2: Vgl. Robert J. Hodrick und Edward C. Prescott (1997): Postwar business cycles: an empirical investigation in Journal of Money, Credit and Banking, Vol. 29 Nr. 1

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