Presse 9 % mehr Fälle: Jugendämter melden 2020 Höchststand an Kindeswohlgefährdungen

Pressemitteilung Nr. 350 vom 21. Juli 2021

  • Behörden registrierten im Corona-Jahr 2020 rund 5 000 Fälle mehr als 2019
  • Jedes dritte betroffene Kind war jünger als 5 Jahre
  • Psychische Misshandlungen besonders stark gestiegen (+17 %)
  • Weniger Hinweise von Schulen (-1,5 %), aber mehr aus der Bevölkerung (+21 %)

WIESBADEN – Die Jugendämter in Deutschland haben im Jahr 2020 bei fast 60 600 Kindern und Jugendlichen eine Kindeswohlgefährdung festgestellt. Das waren rund 5 000 Fälle oder 9 % mehr als 2019. Wie das Statistische Bundesamt (Destatis) mitteilt, haben die Kindeswohlgefährdungen damit im Corona-Jahr 2020 den höchsten Stand seit Einführung der Statistik im Jahr 2012 erreicht. Bereits in den beiden Vorjahren war die Zahl der Kindeswohlgefährdungen deutlich - und zwar um jeweils 10 % - gestiegen.

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Neben einer zunehmenden Sensibilisierung der Bevölkerung für den Kinderschutz, können im Corona-Jahr 2020 auch die Belastungen von Familien infolge der Lockdowns und der Kontaktbeschränkungen ein Grund für die Zunahme gewesen sein. Gleichzeitig ist nicht auszuschließen, dass ein Teil der Fälle, etwa aufgrund von vorübergehenden Schulschließungen, unentdeckt geblieben ist. Die Behörden können nur solche Fälle zur Statistik melden, die ihnen bekannt gemacht wurden, wobei auch diese Zahl gewachsen ist: Bundesweit prüften die Jugendämter im Jahr 2020 knapp 194 500 Verdachtsmeldungen im Rahmen einer Gefährdungseinschätzung, das waren 12 % mehr als 2019 (+21 400 Fälle).

Jedes zweite Kind war jünger als 8 Jahre, jedes dritte jünger als 5 Jahre

Den neuen Ergebnissen zufolge war etwa jedes zweite gefährdete Kind jünger als acht Jahre (51 %) und jedes dritte sogar jünger als fünf Jahre (33 %). Während Jungen bis zum Alter von 13 Jahren etwas häufiger betroffen waren, galt dies ab dem 14. Lebensjahr für die Mädchen. Die meisten Minderjährigen wuchsen bei alleinerziehenden Elternteilen (43 %), bei beiden Eltern gemeinsam (38 %) oder einem Elternteil in neuer Partnerschaft auf (11 %). Etwa die Hälfte (49 %) der betroffenen Jungen und Mädchen hatte zum Zeitpunkt der Gefährdungseinschätzung bereits eine Leistung der Kinder- und Jugendhilfe in Anspruch genommen und stand somit schon in Kontakt zum Hilfesystem.

Vernachlässigung ist am häufigsten, psychische Misshandlungen steigen am stärksten

Die meisten der rund 60 600 Kinder mit einer Kindeswohlgefährdung wiesen Anzeichen von Vernachlässigung auf (58 %). Bei rund einem Drittel aller Fälle (34 %) wurden Hinweise auf psychische Misshandlungen – beispielsweise in Form von Demütigungen, Einschüchterungen, Isolierung und emotionale Kälte – gefunden. In etwas mehr als einem Viertel (26 %) der Fälle gab es Indizien für körperliche Misshandlungen und in 5 % Anzeichen für sexuelle Gewalt. Mehrfachnennungen waren hierbei möglich.

(Akute und latente) Kindeswohlgefährdungen nach Art der Gefährdung
Art der GefährdungJahr
2012 120132014201520162017201820192020
Anzahl
1Ohne Hamburg 
(Akute oder latente) Kindeswohlgefährdungen nach
Art der Gefährdung (inkl. Mehrfachnennungen)
38 28338 62241 04944 99445 77745 74850 41255 52760 551
Vernachlässigung25 33525 05426 10528 64827 95227 79430 46832 47635 110
Körperliche Misshandlung9 0348 9499 68010 39711 77711 88513 07915 06315 943
Psychische Misshandlung9 8269 96411 16812 15413 02013 55915 56317 79320 887
Sexuelle Gewalt1 9391 8661 9041 9882 0212 0452 4542 9903 223
%
Vernachlässigung66,264,963,663,761,160,860,458,558,0
Körperliche Misshandlung23,623,223,623,125,726,025,927,126,3
Psychische Misshandlung25,725,827,227,028,429,630,932,034,5
Sexuelle Gewalt5,14,84,64,44,44,54,95,45,3
nachrichtlich: 
Gefährdungseinschätzungen (Anzahl)106 623115 687124 213129 485136 925143 275157 271173 029194 475

Im Vergleich zum Vorjahr haben alle Arten der Kindeswohlgefährdung an Bedeutung gewonnen. Besonders stark war die Zunahme im Corona-Jahr 2020 aber bei psychischen Misshandlungen. Hier stieg die Zahl der Nennungen um 17 % (+3 100 Fälle).

Weniger Hinweise von Schulen, aber deutlich mehr aus der Bevölkerung

Die meisten der rund 194 500 Gefährdungseinschätzungen wurden im Jahr 2020 von der Bevölkerung - also Verwandten, Bekannten, Nachbarn oder anonym - angeregt (27 %). Fast ebenso häufig kamen die Hinweise auf eine mögliche Kindeswohlgefährdung von Polizei oder Justizbehörden (27 %). Mit Abstand folgten Einrichtungen und Dienste der Kinder- und Jugendhilfe oder Erziehungshilfe (13 %) sowie Schulen (10 %). In rund jedem zehnten Fall hatten die Familien selbst, also die betroffenen Minderjährigen oder deren Eltern, auf die Gefährdungssituation aufmerksam gemacht (9 %).

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Knapp jeder dritte Verdacht auf eine Kindeswohlgefährdung wurde später durch die Jugendämter bestätigt (31 %). In etwa einem weiteren Drittel (34 %) der Fälle stellten die Behörden zwar keine Gefährdung, wohl aber weiteren Hilfebedarf fest und ebenso in rund einem Drittel (35 %) der Fälle erwies sich der Verdacht als unbegründet.

Fachleute hatten im Vorfeld der Corona-bedingten Lockdowns davor gewarnt, dass insbesondere durch die Schul- und Kita-Schließungen Kinderschutzfälle unentdeckt geblieben sein könnten. Die neuen Ergebnisse scheinen diese Annahme, zumindest für den Sektor Schule, zu stützen: So sind die Verdachtsmeldungen von Schulen im Jahr 2020 - erstmals in der Statistik und entgegen dem allgemeinen Trend (insgesamt 12 % mehr Verdachtsmeldungen gegenüber 2019) - um 1,5 % zurückgegangen (-300 Fälle). Dies steht im Gegensatz zu den Entwicklungen der beiden Vorjahre: Im Jahr 2018 hatten die Verdachtsmeldungen von Schulen um 15 % (+2 100 Fälle) und im Jahr 2019 sogar um 17 % zugenommen (+2 800 Fälle).

Gefährdungseinschätzungen nach Hinweisgebern
JahrGefährdungs-einschätzungen
insgesamt
Davon nach bekannt machenden Institutionen/Personen
Verwandte, Bekannte,
Nachbarn, anonym
Polizei,
Gericht,
Staatsanwalt
schaft
Einrichtung, Dienst der Kinder-
und Jugendhilfe,
Erziehungshilfe/ Beratungsstelle
SchuleEltern(teile), Personensorge-berechtigteHebamme, Arzt,
Klinik, Gesund-heitsamt
u.ä. Dienste
Kindertages-einrich-
tung, -pflege-
person
Minder-
jährige selbst
Sonstige
Anzahl
2 Ohne Hamburg.
20122106 62333 63318 36015 1799 7277 9057 9764 0792 4327 332
2013115 68736 34422 53016 0019 9108 4048 6164 0162 4617 405
2014124 21338 15225 29817 11211 0359 0618 7264 4962 6637 670
2015129 48537 31028 07118 71011 6919 3808 3254 4263 0948 478
2016136 92537 26730 23420 11213 2609 5589 0664 3583 03410 036
2017143 27538 74533 54220 30214 5429 7898 9474 8503 0809 478
2018157 27141 45138 62722 32916 68210 6739 5805 0843 3269 519
2019173 02943 09144 28123 85819 52912 15010 4385 7243 65910 299
2020194 47552 23851 56825 90819 23814 37911 4466 1983 5959 905

Dagegen scheint die Bevölkerung im Corona-Jahr 2020 erheblich wachsamer geworden zu sein: Gegenüber 2019 sind die Hinweise von Verwandten, Bekannten, Nachbarn und anonymen Melderinnen und Meldern um insgesamt 9 100 Fälle angestiegen, das entspricht einer weit überdurchschnittlichen Zunahme um 21 %.

Hinweis:

Eine Kindeswohlgefährdung liegt vor, wenn eine erhebliche Schädigung des körperlichen, geistigen oder seelischen Wohls eines Kindes droht oder bereits eingetreten ist. In Verdachtsfällen sind die Jugendämter verpflichtet, durch eine Gefährdungseinschätzung (nach § 8a SGB VIII) das Gefährdungsrisiko und den Hilfebedarf abzuschätzen und einer Gefährdung entgegenzuwirken. Dazu zählen in der Regel auch ein Hausbesuch und die Erörterung der Problemsituation mit dem Kind und – sofern dies dem Kinderschutz nicht entgegensteht – den Sorgeberechtigten. Im Zweifel kann der Kinderschutz auch durch ein Familiengericht gegen den Willen der Sorgeberechtigten durchgesetzt werden.

Weitere Informationen:

Weitere Informationen stehen in der Publikation „Gefährdungseinschätzungen“ sowie in der Datenbank GENESIS-Online bereit (Tabellen 22518). Weiterführende Ergebnisse zu den Themen „Kinderschutz und Kindeswohl“ sind auf der neuen Themenseite im Internetangebot des Statistischen Bundesamtes verfügbar.

Kontaktfür weitere Auskünfte

Kinder- und Jugendhilfe

Telefon: +49 611 75 8231

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