Mediathek Fachkräftemangel: Wie steht es um die berufliche Bildung in Deutschland?

In vielen Branchen in Deutschland wird der Fachkräftemangel beklagt – Betriebe finden keine Auszubildenden, Handwerker keine Nachfolger, Auftraggeber keine ausführenden Firmen, so heißt es. Fehlt es an Nachwuchs? Wie steht es überhaupt um die berufliche Bildung hierzulande? Was hat sich verändert, nicht zuletzt im Zuge der Covid-19-Pandemie? Für welche Berufe entscheiden sich junge Menschen heutzutage – und warum? Über Fragen wie diese sprechen wir in unserer neuen Folge von "StatGespräch", dem Podcast des Statistischen Bundesamtes, mit Emilio Schraner, Experte für Berufliche Bildung hier im Statistischen Bundesamt, und Mirko Wesling, Referatsleiter beim Zentralverband des Deutschen Handwerks und dort zuständig für Berufsbildungs­statistik und bildungspolitische Analysen. Für diesen Podcast haben wir für Sie auch ein Transkript erstellt.

Transkript

Herr Schraner, Sie haben kürzlich gemeldet, die Zahl neuer Ausbildungsverträge 2021 liege "auf historisch niedrigem Niveau". Was bedeutet das?

Schraner: Wir hatten einen allgemeinen Trend in letzter Zeit – unter anderem wegen des demografischen Wandels, aber auch aus anderen Gründen, auf die wir noch eingehen können –, dass die Zahl der Auszubildenden und auch der Neuverträge abgenommen hat. Und wir hatten 2020 einen sehr starken Einbruch, der auch mit Corona in Verbindung gebracht werden kann. Seit wir die Statistik hier erheben – und das ist seit vor der Wiedervereinigung – hatten wir noch sie so niedrige Zahlen. Zum Vergleich: Wir hatten vor zehn Jahren noch 100 000 Neuabschlüsse mehr in einem Jahr und sind jetzt unter einer halben Million angekommen. Und das ist eine Zahl, die historisch sehr niedrig ist.

Die Zahl der jungen Menschen geht zurück, doch erklärt das, warum ein Fünftel weniger Ausbildungsverträge im dualen System abgeschlossen wurden?

Schraner: Nicht ganz. Es gibt mehr Menschen, die jetzt im Ausbildungssystem fehlen, als man durch den demografischen Wandel erwarten könnte. Die Gründe sind mannigfaltig. Wir haben auch im Arbeitsmarkt Verschiebungen, wir haben eine oft diskutierte Akademisierung der Bildung, dass also immer mehr Studiengänge besucht werden für Berufe, die früher auch über eine duale Ausbildung zum Abschluss gebracht werden konnten. Und das merken wir tatsächlich nicht nur an den Berufsschulen selbst. Wenn wir auf die Hochschulen schauen, so sind es auch gerade die Fachhochschulen, die einen starken Zuwachs haben – also Studiengänge mit einem stark berufsbezogenen Kontext.

Herr Wesling, Sie sind Referent beim Zentralverband des Deutschen Handwerks. Jahrzehntelang wurde über zu wenig Ausbildungsplätze geklagt. Jetzt ist das Stellen­angebot besser denn je und gleichzeitig scheinen sich immer weniger Menschen für eine Ausbildung speziell im Handwerk zu interessieren. Wie ist die Lage tatsächlich?

Wesling: Herr Schraner hat da die wesentlichsten Punkte schon beschrieben. Der Elefant im Raum ist natürlich, wenn man sich die Zeitachse anschaut, die Demografie. In den letzten zwei Dekaden ist die Zahl der jungen Menschen, das definiere ich jetzt mal als 15- bis 25-Jährige, um knapp eine Million zurückgegangen. Und das macht sich dann natürlich bemerkbar – am Ausbildungsmarkt beziehungsweise bei der Ausbildungs­stellen­nachfrage. Hinzu kommt, wie Herr Schraner auch schon beschrieben hat, dass eben die Studienanfängerquote im gleichen Zeitraum beachtlich angestiegen ist. Im Jahr 2000 waren es rund 30 % und mittlerweile sind wir bei 50 % eines Jahrgangs, die ein Studium aufnehmen. Ein drittes sind die sogenannten schulischen Ausbildungs­gänge, die werden ja auch nicht in der Berufsbildungsstatistik im Kontext des dualen Systems erfasst. Und auch da ist zumindest ein leichter Trend nach oben. Das sind Berufe im Erziehungs-, Gesundheits- und Sozialbereich. Wenn man sich medial umschaut, beklagen diese Berufe ebenfalls einen Fachkräftemangel, und das völlig zu recht. Dort sind die Ausbildungszahlen stabil geblieben, trotz der eingangs skizzierten rückläufigen Bevölkerungszahl bei den 15- bis 25-Jährigen.

Vor dem Hintergrund dieser Gemengelage ist es zunehmend schwierig, Ausbildungs­stellen zu besetzen. Die Betriebe sind nach wie vor ausbildungswillig. Das Handwerk ist absolut auf das duale System angewiesen. Maurer lernt man eben nicht an der Hochschule, sondern da muss sowohl das theoretische als auch berufspraktische Handeln erlernt werden. Deswegen sind da auch der Akademisierung ein Stückweit Grenzen gesetzt. Um nur mal eine Zahl in den Raum zu werfen: Die Bundesagentur für Arbeit hat kürzlich die Ausbildungsmarkt-Bilanz veröffentlicht. Danach sind in diesem Jahr zum 30.9. im Handwerk 19 800 Ausbildungsplätze unbesetzt geblieben. Im Jahr 2009 waren das noch 4 600. Das zeigt schon, dass da durchaus ein wenig Druck auf dem Kessel ist im Ausbildungsmarkt.

Herr Schraner, in der Berufsbildungsstatistik erfassen Sie Hunderte verschiedener Berufe. Viele davon sind den meisten Menschen vermutlich kaum bekannt, andere werden häufig gewählt. Wo gibt es denn derzeit die meisten Neuabschlüsse?

Schraner: Da haben wir so typische Berufe wie die Kauffrau/den Kaufmann im Einzelhandel oder auch im Büromanagement. Das sind klassische Berufe, die stark besetzt sind, nach wie vor. Daneben wir natürlich die Kfz-Mechatroniker und die medizinischen Fachangestellten, die auch sehr bekannt sind. Das sind wirklich Berufe, denen man im Alltag sehr oft begegnet, und die haben tatsächlich immer noch eine Konstanz aufzuweisen. Da besteht auch eine Konstanz, was die Geschlechterwahl betrifft. Es ist immer noch so, dass bei den weiblichen Auszubildenden die medizinischen und zahnmedizinischen Fachangestellten aufzuzählen sind. Und bei den Männern haben wir den gerade genannten Kfz-Mechatroniker, der zu den häufigen Berufen gezählt wird. Oder auch Fachinformatiker oder Anlagenmechaniker. Wir haben da immer noch eine typische Verteilung. Spannend hier noch mal zu betrachten ist vielleicht, dass die Streuung auch verschieden ist. Bei Frauen ist es noch so, dass die Top 5 der gewählten Berufe ein Fünftel der weiblichen Auszubildenden betreffen. Bei den Männern ist das etwas mehr gestreut auf mehr Berufe.

Welche Veränderungen beobachten Sie dabei? Gibt es vormals häufig gewählte Berufsausbildungen, die heute seltener gewählt werden? Scheinen andere attraktiver oder wichtiger geworden zu sein?

Schraner: Da sieht man tatsächlich Veränderungen. Nehmen wir die stark beachtete IT-Branche: Dort haben wir den Fachinformatiker, der in den letzten zehn Jahren stark angestiegen ist. Während das vor einiger Zeit noch der am zehntstärksten besetzte Beruf war, ist es derzeit der am zweitstärksten besetzte Beruf – bei den Männern. Spannend, Sie sprechen es an, ist die Corona-Pandemie. Da haben nicht nur die eben genannten IT-Berufe einen starken Zuwachs bekommen bei der Ausbildung, sondern auch der Versand­handel, da anzusprechen die Lagerlogistik oder auch E-Commerce. Und auch in der Gastronomie sehen wir, dass es jetzt mehr in Richtung Systemgastronomie geht, was widerspiegelt, dass mehr Essen bestellt und abgeholt wird. Auch im Tourismus sehen wir Veränderungen, die mit den aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen zusammen­hängen. Das Handwerk konnte sich vergleichsweise gut behaupten. Während Industrie und Handel stärkere Rückgänge zu verzeichnen hatten, konnte das Handwerk einen geringeren Rückgang bei Neuverträgen verzeichnen. Einzelne Berufe sogar Zuwächse: Wenn wir die Dachdecker, Zimmerer oder Zweiradmechatroniker nehmen, die konnten sich tatsächlich sehr gut behaupten.

Herr Wesling, das klingt doch eigentlich recht positiv, zugleich haben Sie die wachsende Zahl unbesetzter Ausbildungsstellen angesprochen. Wie bewerten Sie diese Daten: Ist das eine Trendwende oder scheint das Handwerk für viele junge Menschen zunehmend weniger attraktiv?

Wesling: Zur Einordnung muss man betonen, dass das Handwerk in ungefähr 130 Berufen ausbildet. Das Handwerk ist also äußerst heterogen, und so sind auch die Trends zu betrachten. Nichtsdestominder zeigt dieser Globaltrend, wenn man es aggregiert fürs Handwerk betrachtet, in der Corona-Zeit und jetzt auch im Jahr 2021 das große Verantwortungsbewusstsein der vielen Klein- und Kleinstbetriebe für ihren Nachwuchs zu sorgen – jetzt rein aus der ökonomischen Brille, aber im Handwerk gehört Ausbildung auch sehr zur DNA dazu. Das heißt, da ist sich der Handwerker oder die Handwerkerin der gesellschaftlichen Verantwortung bewusst, die mit einer Ausbildung verbunden wird. Das wäre auch meine Theorie dazu, warum es da nicht immer so schnell in die eine oder andere Richtung schwankt, je nach Konjunktur. Auch die Umfrage des Bundesinstituts für Berufsbildung hat gezeigt, dass sich der russische Angriffskrieg auf die Ukraine noch nicht auf das Ausbildungsengagement der Handwerksbetriebe ausgewirkt hat.

Was mich überrascht hatte, war, dass im Corona-Jahr 2020 auch die Zahl der vorläufigen Vertragslösungen im Handwerk zurückgegangen ist und die Prüfungserfolge stabil geblieben sind. Das duale System ist also äußerst resilient in Krisenzeiten, was wirklich ein positives Merkmal ist, um das uns gerade die europäischen Nachbarn in Krisenzeiten beneiden, wenn die Jugendarbeitslosigkeit dort wie in Spanien oder Griechenland durch die Decke geht. Gerade wenn die Konjunktur einbricht. Nichtsdestominder ist es leider nicht so, dass ich jetzt schon von einer Trendwende sprechen kann. Weil wir sehen, dass das Niveau von vor Corona noch nicht wieder erreicht wurde. Das ist ein Phänomen, dass wir auch schon in der Finanzkrise gesehen haben. Das Ausbildungsniveau hat sich zwar im Nachgang der Finanzkrise ein Stückweit normalisiert, aber nie wieder das Vorkrisenniveau erreicht. Meine Befürchtung ist, dass es in dieser Post-Corona-Zeit ähnlich sein wird, wenn wir nicht noch mehr trommeln und werben und mehr junge Menschen für die berufliche Bildung begeistern.

Was hält denn junge Menschen davon ab, ins Handwerk zu gehen? Spielen da auch finanzielle Überlegungen eine Rolle?

Wesling: Ich glaube, dass eine Herausforderung darin besteht, dass bei einem wachsenden Teil junger Menschen das Handwerk nicht mehr ins Auswahlspektrum kommt, wenn sie über ihre nachschulischen Berufs- und Qualifizierungswege nachdenken. Das kann mannigfaltige Ursachen haben. Zum Beispiel gibt es Untersuchungen, die zeigen, dass wenn Jugendliche im unmittelbaren familiären Umfeld oder im Freundeskreis Handwerkerinnen und Handwerker haben, sie dann eher geneigt sind, eine Ausbildung zu machen. Wenn der Anteil der jungen Menschen, die diesen unmittelbaren Kontakt zum Handwerk nicht mehr haben, wächst, dann wird es eben problematisch und diese jungen Menschen müssen über andere Wege und Kanäle für diese Ausbildungsmöglichkeiten und Karrierechancen aufgeschlossen werden.

Neben Eltern und Familie ist auch die Schule wichtig als Ort für berufliche Orientierung. Da können wir beobachten, dass immer mehr junge Menschen aufs Gymnasium gehen, und die Gymnasien aber nicht in gleicher Weise Berufs- und Studienorientierung machen wie Schulen, die zu einem mittleren Bildungsabschluss führen. Das heißt, da ist es immens wichtig, auch und insbesondere an den Gymnasien mehr in Richtung einer gleichwertigen Berufs- und Studienorientierung zu kommen, um die hochschulischen Karrieremöglichkeiten darzustellen, aber gleichwertig auch die Möglichkeiten, die sich im System der Berufsbildung ergeben. Die müssen ja nach der dualen Ausbildung nicht zu Ende sein. Das ist ja etwas, wo man sich stetig weiterentwickeln kann, sei es in informellen Bereichen oder auf dem Weg der höheren Berufsbildung. Der Meister oder die Meisterin im Handwerk ist auf der DQR-Stufe 6 eingeordnet und die Absolventen und Absolventinnen mit einem Meisterabschluss können den Titel eines "Bachelor professional" führen.

Der Punkt Vergütung lässt sich natürlich gut diskutieren. Es lässt sich gut eine Zahl in den Raum stellen und darüber diskutieren, ist das viel, ist das wenig, zu viel oder zu wenig. Im Kontext der Ausbildungsvergütung muss man aber bedenken, dass Ausbildung für beide Seiten netto erst einmal eine Investition bedeutet. Das heißt, es sind den Vergütungsbereichen in der Ausbildung auch ein Stückweit Grenzen gesetzt. Und wenn man sich die Vergütung nach der Ausbildung anschaut oder eben gerade auf den Stufen der höheren Berufsbildung, die man ja, wenn man nicht Äpfel mit Birnen vergleichen möchte, mit den Hochschulabsolventen-Vergütungen vergleichen müsste, dann sieht man, dass sich das Handwerk da überhaupt nicht zu verstecken braucht.

Während die Zahl der Auszubildenden zurückgeht, ist die Zahl der Studierenden von 2010 bis 2020 kontinuierlich gestiegen. Herr Schraner, liegt das an der höheren Abiturquote oder haben sich früher mehr Abiturienten für eine Ausbildung entschieden?

Schraner: Das ist tatsächlich etwas, das sehr differenziert angegangen werden muss. Wir erheben zwar diese Zahlen. Wir können aber nicht unbedingt sagen, dass wir da einen kausalen Zusammenhang sehen können. Das wäre wünschenswert, aber dazu bräuchten wir tatsächlich eine Bildungsbiografie. Wir müssten also sehen, wie einzelne Menschen das Schulsystem durchlaufen, wo sie sich später im Bildungssystem entscheiden und unterkommen, um zu gucken, was für weitere Einflussfaktoren es gibt. Das kann man mit den aktuellen Daten so nicht sehen. Wir haben die Berufsbildungsstatistik und die Hochschulstatistik, aber um einen Zusammenhang herstellen zu können, bräuchten wir eben diese Bildungsbiografien. Daran wird bei uns im Haus gearbeitet, es wird die Einrichtung eines Bildungsregisters geplant. Darin hätten wir die Daten zu den Bildungsabschlüssen über die Zeit dann verknüpft mit dem Bildungsstand der Bevölkerung. Damit wären solche Analysen dann tatsächlich möglich.

Was wir zum jetzigen Zeitpunkt sagen können, ist, dass es eine Verschiebung gab im letzten Jahrzehnt, gerade wenn wir in der Berufsbildungsstatistik den höchsten vorhandenen Schulabschluss betrachten. Neuabschlüsse gingen früher eher noch mit einem Hauptschulabschluss einher. Das ist jetzt immer seltener der Fall. Es verschiebt sich immer mehr zur mittleren Reife oder auch mit einem steigenden Anteil zur Hochschulreife. Gerade im Handwerk finden wir allerdings noch überdurchschnittlich häufig den Hauptschulabschluss vor. Aber auch hier haben wir einen sehr starken Rückgang: Wenn wir auf die letzten zehn Jahre schauen von 53 % auf 36 %. Und im gleichen Zeitraum hat sich der Anteil der Hochschul- oder Fachhochschulreife von 7 auf 17 % mehr als verdoppelt. Wir sehen also die Verschiebung, und es wird dann noch spannend werden in Zukunft, dort kausale Zusammenhänge analysieren zu können.

Herr Wesling, was bedeutet das für die Ausbildungsbetriebe, dass die Bewerberinnen und Bewerber immer höhere Schulabschlüsse haben? Passen Angebot und Nachfrage da noch zusammen?

Wesling: Man muss da zwei Sachverhalte schon in der Analyse differenzieren. Das eine ist: Was kommt den aus dem abgebenden System Schule? Und da sind es schlichtweg mehr Abiturientinnen und Abiturienten, die dann in die nachschulische Qualifizierungs­phase eintreten. Und das zweite ist: Wie verändern sich die Kompetenzanforderungen in bzw. die Komplexitätsanforderungen von Berufen? Natürlich gibt es auch im Handwerk ganz viele neue spannende Aufgaben, und das Handwerk ist auf leistungswillige und leistungsfähige junge Menschen angewiesen. Da geht es um die energetische Sanierung von Gebäuden, das muss projektiert werden, da geht es um die Beratung von Kundinnen und Kunden zu den für ihre Bedürfnisse jeweils besten Produkten. Das sind immer komplexer werdende Aufgaben, das heißt, es gibt in einem gewissen Segment durchaus auch im Handwerk oder gerade da gestiegene Anforderungen.

Was aber mit Blick auf den Gesamtmarkt so ein wenig betrüblich stimmt, ist, dass die Passungsprobleme durch den gewachsenen Anteil von Abiturientinnen und Abiturienten zumindest nach meiner Analyse ein Stückweit zuzunehmen scheinen. Das heißt, es werden relativ mehr Abiturientinnen und Abiturienten, die sich bei der Bundesagentur für Arbeit arbeitssuchend melden als Hauptschülerinnen und Hauptschüler. Es werden also Jahr für Jahr mehr Abiturientinnen und Abiturienten in dieses duale System gebracht, nichtsdestominder ist aber das Berufswahl-Spektrum für sie ein komplett anderes. Für sie sind Berufe, in denen sich mehrheitlich Hauptschülerinnen und Hauptschüler bewerben, anscheinend unattraktiv oder weniger attraktiv. Und das stellt diese Berufe vor ganz große Herausforderungen. Sie müssen sich ein Stückweit umorientieren, ohne den Hauptschülerinnen und -schülern Chancen zu verwehren, um auch für die aktuell und wohl ebenso künftig größer werdende Gruppe von Bewerberinnen und Bewerbern attraktiv zu werden.

Wenn es um den Nachwuchsmangel geht, spielt auch die Geschlechterfrage eine Rolle. Herr Schraner, gibt es immer noch typische Männer- und Frauenberufe oder ändert sich das allmählich?

Schraner: Auch hier ist es sehr unterschiedlich je nach Berufsbereich. Es gibt manche Berufe, bei denen die Statistik gut widerspiegelt, was viele von uns vielleicht auch im Alltag erfahren. Wenn man beispielsweise an den letzten Besuch in der medizinischen Praxis oder in der Werkstatt denkt, hat man vielleicht schon eine Vorstellung, wie das Geschlechterverhältnis ist. Gleichzeitig sind es andere Berufe, vor allem im Kaufmännischen, wo wir heute ein recht ausgewogenes Geschlechterverhältnis haben und wo es früher oft mehr die Frauen waren, die sich dort in der Ausbildung befanden.

In Analysen, beispielsweise zum Girls‘ und Boys‘ Day, konnten wir sehen, dass in manchen Berufen wie zum Beispiel der Berufskraftfahrerin tatsächlich ein starker Anstieg stattgefunden hat. Wobei man das in Relation setzen muss zum Ausgangsniveau – wir kamen hier von einem Frauenanteil von 3 % und sind jetzt bei 10 %. Das ist insgesamt betrachtet noch nicht viel, aber im Zeitkontext gesehen doch eine starke Veränderung. Ähnlich sieht das bei Tischlerinnen aus: Auch hier hatten wir früher eher wenige und da steigt der Anteil. Umgekehrt ist es beim Friseurhandwerk, wo sich immer mehr Männer in diesem Ausbildungsberuf befinden. Von daher: Es gibt Verschiebungen, sie sind nicht sehr groß, aber man sieht durchaus, dass es möglich ist in manchen Berufen, dieses Paradigma auszugleichen und den Beruf für beide Geschlechter attraktiv zu machen.

Herr Wesling, die Tischlerin und der Friseur – ist das auch eine Chance für die Betriebe, die Ausbildungen attraktiver für beide Geschlechter zu machen und so Lücken zu schließen?

Wesling: Absolut. Frauen sind im Handwerk mit Ausnahme vom Gesundheitshandwerk, beispielsweise Augenoptikerinnen, Zahntechnikerinnen, Hörakustikerinnen, und einigen Handwerken für den privaten Bedarf wie die Friseure/Friseurinnen immer noch komplett unterrepräsentiert. Das hat verschiedene Ursachen. Zum einen ist es so, dass die Zahl und der Anteil von Frauen auf dem Ausbildungsmarkt generell zurückgeht, was vermutlich damit zu tun hat, dass Frauen häufiger Abitur machen als Männer und studieren gehen. Und was auch damit zusammenhängen mag, dass in den Gesundheits-, Erziehungs- und Sozialberufen auch eine große Geschlechterimbalance besteht und Frauen häufig in diese Berufe gehen. Und da sind wir auch wieder bei diesem Punkt Orientierung: Wir müssen es aus den Köpfen herausbekommen, dass Frauen, wenn sie an Handwerk denken, vielleicht nur an Friseurin denken. Anlagenmechanikerin für SAK, Elektronikerin für Gebäudesystemintegration – das sind auch Berufe, die Frauen einfallen müssen, wenn sie Handwerk assoziieren und sich überlegen, vielleicht ins Handwerk zu gehen. Aber man muss auch schauen, dass sich da ein bisschen was tut. Es braucht eben auch mehr Handwerkerinnen, die ihrem Handwerk ein Gesicht geben.

Einen Ausbildungsvertrag abzuschließen, ist das eine. Eine Ausbildung erfolgreich zu beenden, das andere. Herr Schraner, erkennen Sie beispielsweise, ob es in einem Bereich eine besonders hohe Fluktuation gibt? Was wissen wir über Abbrüche?

Schraner: Zunächst müssen wir hier darauf eingehen, was Abbrüche sind und wie man Abbrüche erheben kann. In diesem Kontext würde man denken, ein Abbruch ist, wenn jemand aufhört, diese Ausbildung zu verfolgen. Aber das ist statistisch sehr schwer zu erfassen. Was wir erfassen, ist die Lösung von Ausbildungsverträgen. Und das ist nicht immer dasselbe wie ein Abbruch. Denn es gibt natürlich auch Ausbildungen, in denen man den Betrieb wechselt, und auch da würde man den aktuellen Ausbildungsvertrag lösen und einen neuen abschließen. Es gibt Berufe, bei denen es auch normaler ist, dass man während seiner Ausbildung verschiedene Betriebe durchläuft, dort hat man auch etwas höhere Lösungsquoten.

Natürlich würden wir es uns wünschen, mehr Informationen darüber zu haben, was die Hintergründe sind. Aber wir können es statistisch nicht erfassen. Und es gibt eben beispielsweise in der Gastronomie Bereiche, in denen es diese höhere Fluktuation in Form von Lösungsquoten gibt, aber man könnte daraus nicht unbedingt schließen, dass das Abbrüche sind.

Herr Wesling, was wissen Sie über Abbrüche und Wechsel? Gibt es Bereiche, die besonders betroffen sind? Und gibt es Abbrüche heute häufiger als früher?

Wesling: Im Zeitverlauf, muss ich gestehen, kann ich Ihnen das gar nicht beantworten. Was ich weiß, und das will ich auch in keinster Weise beschönigen oder negieren, ist, dass die Vertragslösungsquote, wenn man aufs Handwerk schaut, eine höhere ist als in anderen Zuständigkeitsbereichen. Das ist ein Faktum, was sich nicht wegdiskutieren lässt, was aber einer gewissen Interpretation bedarf. Vorweg: Handwerksbetreibe und die Handwerksorganisationen sind natürlich immer bemüht, die Ausbildung auf einem guten Niveau zu halten und nach Möglichkeit auch immer weiter zu steigern. Aber es gibt eben den einen oder anderen Fall, in dem es nicht gelingt, dass Betrieb und Aus­zu­bildende zusammenbleiben. Und was sich statistisch durchaus beobachten lässt ist, dass Personen, die maximal einen Hauptschulabschluss haben, eine höhere Vertrags­lösungs­quote aufweisen. Es gibt Untersuchungen, dass in Betrieben, die eher klein und kleinstbetrieblich sind, also wo die Mitarbeiterzahl eher klein ist, auch ein höheres Vertragslösungsrisiko besteht. Und wenn man jetzt aufs Handwerk schaut und den handwerklichen Ausbildungsmarkt beschreiben möchte, dann sind es eben diese beiden Merkmale, die einem dann auch schnell einfallen. Und was natürlich nicht hilft in diesem Kontext ist, wenn man das rein auf ein Ausbildungsbetriebe-Bashing reduzieren würde und sagen würde: Die Handwerksbetriebe bilden durch die Bank schlecht aus.

Ich glaube, eine wesentliche Herausforderung setzt ein Stückweit früher an: Die allgemeinbildenden Schulen müssen die jungen Menschen auch befähigen, sich im nächsten Qualifizierungsschritt bewähren zu können. Und wenn man da auf die jüngst veröffentlichten IQB-Zahlen schaut, dann muss ich sagen, habe ich doch ein wenig Sorge, dass da Lerndefizite durchgereicht werden, die auch noch anwachsen in den kommenden Jahren. Und das kann nicht die Lösung sein, dass alles immer auf die nächsthöhere Bildungsetappe abgeladen wird. Und die Betriebe, gerade die Klein- und Kleinstbetriebe im Handwerk brauchen Unterstützungsinfrastrukturen und -strukturen, um die jungen Menschen mit schwierigeren Startbedingungen auch adäquat unterstützen zu können. Da gibt es die assistierte Ausbildung, die da Gutes leistet, und es gibt ein Mentorenprogramm "VerA" zur Verhinderung von Ausbildungsabbrüchen.

Wir haben viele Ergebnisse gehört und viel über Datenquellen gesprochen. Zum Abschluss würde ich deshalb gern noch mal mit Ihnen über die Datenlage sprechen. Herr Schraner, wer nutzt eigentlich die Daten des Statistischen Bundesamtes? Und was werden Sie besonders häufig gefragt?

Schraner: Die häufigsten Fragen unterscheiden sich natürlich auch sehr danach, wer bei uns anfragt. Vor allem bei denjenigen, die unsere Statistik nicht so gut kennen, gibt es den Klassiker, dass wir oft gefragt werden, was denn die beliebtesten Berufe seien. Worauf wir immer entgegnen, dass wir nicht wissen, welche Berufe beliebt sind, weil wir nur erheben, welche stark besetzt sind. Es kann durchaus einen Beruf geben wie Bogenmacher, der vielleicht sehr beliebt ist, aber bei dem es nur ein, zwei Ausbildungsplätze gibt.

Wer verwendet unsere Daten? Zum einen die Verbände, Menschen wie Herr Wesling, die mit unseren Daten noch einmal tiefer reinschauen können, wie sich die Realität abbildet in ihrem Bereich. Oder auch das bereits angesprochene BIBB und andere wissen­schaftliche Einrichtungen, die mit unseren Daten forschen wollen. Zu nennen sind auch die politischen Akteurinnen und Akteure, die diese Daten benötigen, um gegebenenfalls politische Entscheidungen treffen zu können, die Hand und Fuß haben. Unsere Daten werden also in verschiedenen Bereichen zu verschiedenen Zwecken genutzt – im Endeffekt aber vor allem, um die Lage in der Berufsbildung zu verbessern und das Bildungsangebot zu gewährleisten.

Herr Wesling, was für Daten wünschen Sie sich von der Statistik? Welche zusätzlichen Informationen würden Ihnen helfen?

Wesling: Ich bin in der Tat Heavy User der Statistiken des Statistischen Bundesamtes und bin auch sehr froh, dass es diese Angebote gibt. Nichtsdestominder haben wir gerade in der Bildungsstatistik noch eine ganze Reihe blinder Flecken. Es gibt da ein Gutachten vom Wissenschaftlichen Beirat des Bundeswirtschaftsministeriums aus dem Jahr 2016, da wurde schon mehr Transparenz in der Bildungspolitik angemahnt. Jüngst hat dann auch der Rat für Sozial- und Wirtschaftsdaten in einem Positionspapier für den Aufbau eines Bildungsverlaufsregisters geworben und sich dafür ausgesprochen. Und für solch ein Bildungsverlaufsregister hätte ich auch sehr viele Sympathien. Weil man gerade die Frage nach den Übergängen, – sei es aus Schule 1 in Schule 2, sei es aus den allgemeinbildenden Schulen in die berufliche Bildung, sei es aus der beruflichen Bildung in die Hochschulen oder auch aus den Hochschulen in die berufliche Bildung zurück – deutlich besser beleuchten könnte, als es jetzt der Fall ist. Dadurch ließen sich politische Entscheidungen auch noch einmal evidenzbasierter treffen. Das ist ein ganz großer Wunsch von mir an die Statistik und ich bin gespannt, ob das funktioniert.

Nichtsdestominder gibt es auch auf Seiten der Forschungsdaten in meinen Augen einen blinden Fleck, da gucke ich immer ein bisschen neidisch in Richtung Deutsches Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung. Dort gibt es sehr tolle Längs­schnitt­be­trachtungen für Studienabsolventen und seit einer Weile sogar für Promovenden. Etwas Ähnliches würde ich mir tatsächlich auch im Bereich der höheren Berufsbildung wünschen, wo die Erwerbskarrieren – gerade im Handwerk, wo auch Selbstständigkeit ganz oft vorbereitet wird – mit Sekundärdaten, wie wir sie jetzt haben, nur sehr schwer nachgezeichnet werden können.