Mediathek Arbeitskräftemangel: Welche Potenziale bietet eine alternde Gesellschaft?

Der Arbeits- und Fachkräftemangel beschäftigt Wirtschaft, Politik und Gesellschaft mit zunehmender Intensität. Für den Mangel gibt es mehrere Ursachen. Dabei spielen auch demografische Entwicklungen eine wichtige Rolle, sowohl was entstehende Lücken betrifft, als auch wenn es um die Aktivierung möglicher gesellschaftlicher und demografischer Potenziale für den Arbeitsmarkt geht. Wer fehlt eigentlich – und warum? Wie entwickeln sich Arbeitszeit und Renteneintrittsalter? Welche Rolle spielen Geschlechterfragen oder die Zuwanderung? Darüber sprechen wir in unserer neuen Folge von "StatGespräch", dem Podcast des Statistischen Bundesamtes. Zu Gast sind Prof. Norbert Schneider, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Demografie und früherer Direktor des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung, und Frank Schüller, Leiter des Referats "Arbeitsmarkt" im Statistischen Bundesamt.

Transkript

Herr Schüller, das Wort Fachkräftemangel ist derzeit ja in aller Munde. Wo auf dem Arbeitsmarkt tun sich denn die größten Lücken auf?

Schüller: Zunächst einmal sind es unabhängig von der Statistik und der aktuellen Datenlage vor allem die Geschichten und Erfahrungen, die wir alle in der jüngsten Vergangenheit aus unserem täglichen Leben kennen. Es ist die Gastronomie, wo wir reduzierte Öffnungszeiten unseres Lieblingsrestaurants beobachten. Es ist das Handwerk, wo wir teilweise monatelang auf Termine warten müssen. Und sicherlich erinnern sich viele auch noch an die Sommerferien, als fehlendes Personal für die Gepäckabfertigung an vielen Flughäfen den Start in den Urlaub zu einer Geduldsprobe haben werden lassen.

In diesen Beispielen, die wir so anekdotisch oder aus eigener Erfahrung kennen, ebenso wie in der aktuellen Diskussion zum Thema Fachkräfte spielen mehrere unterschiedliche Aspekte eine Rolle. Und hier lohnt es sich meines Erachtens, zunächst einmal zu differenzieren und vielleicht auch erst einmal die ein oder andere Begrifflichkeit zu definieren und nicht zuletzt auch auf die Datenlage zu schauen.

Gut, dann fangen wir damit an, erklären Sie!

Schüller: In der Arbeitsmarktstatistik verfügen wir mit dem Mikrozensus und der integrierten Arbeitskräfteerhebung über eine Statistik, die als Mehrthemenbefragung zu sehr vielen unterschiedlichen Aspekten Auskünfte gibt, und diese Informationen können auch noch miteinander verknüpft werden. Hier können wir zum Thema Fachkräfte viele Informationen über die Schnittstellen zwischen Bevölkerung und Wanderung, Bildung und Arbeitsmarkt gewinnen. Darüber hinaus liegen weitere Informationen aus der Wanderungsstatistik und aus dem Ausländerzentralregister vor. Ergebnisse zum Bildungssystem liefert die Bildungsstatistik.

Alle diese Datenquellen haben gemeinsam, dass sie das Arbeitsangebot beschreiben, also die Perspektive der Arbeitskräfte. Wie viele Personen wollen arbeiten, können arbeiten, stehen dem Arbeitsmarkt zur Verfügung. Was uns in der amtlichen Statistik zur Bestimmung einer möglichen Fachkräftelücke oder eines Fachkräftemangels fehlt, ist die Nachfrageseite. Also, wie viele Arbeitskräfte werden eigentlich gebraucht bzw. werden von Unternehmen oder Arbeitgebern nachgefragt. Erst die Gegenüberstellung lässt eine Einschätzung zum Fachkräftemangel zu.

Dennoch lassen sich aus all den beschriebenen Datenquellen sehr viele Informationen zum Thema Fachkräfte und über mögliche Zusammenhänge gewinnen, wie zum Beispiel die bisherige Zusammensetzung und Entwicklung der Erwerbstätigen nach Geschlecht und Alter oder auch nach ihrer Bildungs- und Ausbildungsstruktur.

Und zu welchem Befund kommen Sie, wenn Sie diese Informationen betrachten, hinsichtlich der Lücken auf dem Arbeitsmarkt?

Schüller: Ein wesentlicher Faktor ist natürlich die demografische Entwicklung. Mit dem Ausscheiden der Babyboomer, also der zwischen 1957 und 1969 Geborenen, der zahlenmäßig stärksten Jahrgänge, aus dem Arbeitsmarkt, werden große Veränderungen auf uns zukommen. So werden in den nächsten 15 Jahren 12,9 Millionen Erwerbspersonen das Renteneintrittsalter überschreiten. Dies entspricht knapp 30 % der dem Arbeitsmarkt im Moment zur Verfügung stehenden Erwerbspersonen, bezogen auf das Berichtsjahr 2021.

Schneider: Kann ich da mal reingrätschen? 12,9 Millionen Erwerbspersonen – das ist eine Zahl, die hatte ich jetzt so noch nicht gehört. Ich kenne je nach Annahmen Ergebnisse von 4 Millionen oder auch 7 Millionen. Wie erklären Sie das?

Schüller: Das ist auf den ersten Blick eine sehr große Zahl. Tatsächlich sind es nur die Abgänge, nicht der Saldo. Es sind die Erwerbspersonen – Erwerbstätige und Erwerbslose –, die das Renteneintrittsalter erreichen. Natürlich wachsen auch Generationen nach. Allerdings werden die nachrückenden jüngeren Altersgruppen die älteren zahlenmäßig nicht ersetzen. So umfasst die nachfolgende Altersgruppe zwischen 40 und 49 Jahren zusammen nur 8,9 Millionen Erwerbspersonen.

Noch eine Nachfrage zum Verständnis bzw. zur Begrifflichkeit. Ich habe von Fachkräftemangel gesprochen, Sie von Arbeitskräften. Was fehlt nun eigentlich: Sind es die Fachkräfte oder eher die Arbeitskräfte insgesamt?

Schüller: Fachkräfte sind in unserem statistischen Sprachgebrauch Personen mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung: Dazu gehören die vielzitierten IT-Spezialisten, aber auch Handwerker und beispielsweise ausgebildete Pflegekräfte. Gleichzeitig fehlen an einigen Stellen aber auch allgemein Arbeitskräfte – wie das Beispiel der Gepäckabfertigung zeigt –, unter denen sicherlich auch eine Reihe von Ungelernten zu finden sind.

Herr Schneider, wie bewerten Sie denn die sich auftuende Lücke, die Herr Schüller quantifiziert hat: Fast 13 Millionen Erwerbspersonen, die in den nächsten 15 Jahren das Rentenalter erreichen.

Schneider: Klar ist: Die Lücke, über die unter dem Stichwort Fachkräfte- oder Arbeitskräftemangel immer wieder gesprochen wird, ist zu einem erheblichen Teil demografisch bedingt. Aber jenseits dieser demografischen Umstände spielen noch weitere Themen eine Rolle im Hinblick darauf, wie es mit dem Fach- und Arbeitskräfteangebot weitergeht. Und ich will nur zwei oder drei nennen. Das eine sind sicherlich kulturelle Ursachen. Wir haben doch eine zunehmende Neupriorisierung von Familie und Privatleben und Arbeitsleben, insbesondere auch bei den Jüngeren. Und das bedeutet, dass die Idee, mit Erwerbsarbeit mehr Sinn zu verbinden und weniger Gelderwerb, für einen wachsenden Teil der jüngeren Menschen relevant wird. Damit verbunden ist einerseits mehr Flexibilität von Arbeitsort und Arbeitszeit, aber eben auch von Arbeitsvolumen. Das heißt, die Erwerbspersonen ist die eine Zahl. Aber wie viel die arbeiten in ihrem Arbeitsleben, in ihrem Lebenslauf – Stichwort Sabbaticals, Arbeitsunterbrechungen oder Teilzeit – das sind ganz andere Faktoren, die man einfach sehen muss. Insofern ist nicht nur die Zahl der Menschen entscheidend, sondern ihr Handeln.

Und dazu kommt noch ein zweiter Punkt: Wenn wir Fachkräftemangel global behandeln, ist das eine Sache. Regional stellt sich das teilweise ganz anders dar. Wir haben ganz oft Fachkräftemangel wegen eines Matching-Problems. Arbeitskräfte sind zwar da, sie wohnen aber nicht dort, wo sie benötigt werden und haben – im Zweifel vielleicht aus nachvollziehbaren Gründen – auch nicht die notwendige Mobilitätsbereitschaft. Genauso wie die Nachfrage nach der Arbeitskraft nicht die nötige Mobilitätsbereitschaft hat, dorthin zu gehen, wo Arbeitskräfte sitzen.

Herr Schüller, gibt es Berufe oder Wirtschaftsbereiche, die besonders stark von Alterung der Beschäftigten betroffen sind, wo also ein Mangel in den nächsten Jahren zu erwarten ist?

Schüller: Ja, da kann ich zwei Beispiele nennen. Bei den Erwerbstätigen in MINT-Berufen, also Berufe aus dem naturwissenschaftlich-technischen Bereich (Chemiker, Biologen, Personen in der Produktionstechnik, Elektroniker, Berufe in der Bau- und Gebäudetechnik) liegt der Anteil der über 55-Jährigen im Jahr 2021 bei knapp einem Viertel (24 %), zehn Jahre zuvor waren es nur 17 %. Das zeigt eine Entwicklung über einen Zehnjahreszeitraum. Bei den Pflegekräften sieht es ganz ähnlich aus: 2021 waren 23 % aller Pflegekräfte älter als 55 Jahre, 2012 lag dieser Anteil noch bei 15 %. In diesen beiden Berufsgruppen – und es gäbe da noch weitere zu nennen – zeigt sich die Alterung der gesamten Gesellschaft ganz deutlich.

Ich möchte gern auf die gesellschaftlichen Potenziale für den Arbeitsmarkt zu sprechen kommen: 42-Stunden-Woche, Rente mit 70, Zuwanderung, Erwerbstätigkeit von Frauen steigern – aktuell werden viele Ansätze diskutiert, wie sich dem Arbeitskräftemangel begegnen ließe. Gehen wir sie mal nacheinander durch. Herr Schneider, was sagen Sie einem/einer 18-Jährigen heute, wie lange wird er/sie arbeiten müssen?

Schneider: Ich denke, der Diskurs um ein an ein chronologisches Lebensalter geknüpftes Standard-Renteneintrittsalter mit 67, 70 oder wann auch immer, ist prinzipiell nicht zielführend. Und er erweckt Reaktanz, das sieht man ja auch im gesellschaftlichen Diskurs. Meines Erachtens geht es primär darum, sich von dem klassischen Drei-Phasen-Modell des Lebenslaufs zu verabschieden. Der Lebenslauf ist, wenn man so will, eine soziale Institution. Da gibt es viele institutionalisierte Sachverhalte. Wir müssen mit sechs Jahren in die Schule, als Beispiel, und wir sollen mit 70 aus dem Arbeitsmarkt austreten demnächst. Der Drei-Phasen-Lebenslauf ist im Prinzip so organisiert: Lernen, Aktivität, Ruhestand. Das ist im 19. Jahrhundert entstanden und heute definitiv nicht mehr zeitgemäß. Wir müssen die Idee und das kulturelle Framing des Lebenslaufs drehen und müssen sagen: Wir sind gehalten, das ganze Leben lang zu lernen. Wir sind willens und fähig, das ganze Leben lang produktiv zu sein, und wir haben das ganze Leben lang Bedarf an Auszeiten und Ruhepausen. Was jetzt seriell ist, muss zunehmend parallel gedacht werden.

Und in diesem Zusammenhang brauchen wir auch eine neue Idee von Arbeitszeitorganisation. Die muss viel flüssiger und flexibler werden. Es darf nicht karriereschädigend sein, wenn jemand sagt, ich muss jetzt mal zwei Jahre zu Hause bleiben, weil ich mich um die Familie kümmern muss. Insofern würde ich den 18-Jährigen sagen: Seid bereit, lebenslang zu lernen! Seid bereit für einen Berufswechsel – derzeit nehmen 4 % der Erwerbstätigen pro Jahr einen Wechsel des Berufsfeldes vor, das wird zunehmen. Seid also offen dafür, das ist nichts Katastrophales, sondern möglicherweise etwas Notwendiges.

Hier lohnt vielleicht nochmal ein Blick in die Daten. Kann man denn überhaupt in allen Berufen alt werden? Wo geht das zum Beispiel körperlich nicht?

Schüller: Ich hatte eingangs die Arbeitskräfteerhebung erwähnt. In dieser Erhebung stellen wir regelmäßig Zusatzfragen. Diese haben gehandelt von Belastungen, denen die Erwerbstätigen in bestimmten Berufen ausgesetzt sind. Aus ihr wissen wir zum Beispiel aus dem Jahr 2020, dass 59 % der Beschäftigten in der Landwirtschaft angegeben haben, dass sie physischer Belastung ausgesetzt waren bei der Arbeit. Das kann man sich vorstellen bei körperlich anstrengenden Arbeiten. Aber auch die psychische Belastung ist nicht zu unterschätzen. So gaben beispielsweise im Dienstleistungsbereich 30 % der Erwerbstätigen an, dass sie sich psychischen Belastungen ausgesetzt gesehen haben. Das sind zwei Beispiele mit, wie ich finde, beachtlichen Anteilen, wo sich die Altersgrenze sicherlich nicht unbegrenzt nach oben verschieben lässt.

Schneider: Und an der Stelle ist es auch wichtig, dass man Ideen entwickelt, dass Menschen erwerbstätig bleiben, aber nicht mehr in dem Aufgabengebiet, dass sie vorher hatten. Führungspersonen sind vielleicht mit 60 an einem Punkt, dass sie sagen, das schaffe ich nicht mehr. An sich wären sie aber noch willens, weiter erwerbstätig zu sein. Insofern braucht man eine Kultur, die dieses Zurück- oder Herabtreten entsprechend würdigt. Und nicht sagen: Der kann nicht mehr – weg. Dasselbe gilt für Beispiele, die Sie genannt haben, Herr Schüller. Wenn der Dachdecker mit 60 aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr in der Lage ist, aufs Dach zu gehen, dann könnte er aber vielleicht seine Erfahrungen weitergeben an junge Menschen, die Dachdecker lernen. Da muss man viel flexibler und offener denken – dann kann Erwerbsbeteiligung in immer höhere Lebensalter hinein möglich werden.

Wir dürfen aber auch nicht übers Ziel hinausschießen. Wir müssen ja sagen, dass das Rentenalter mit 65 zunächst einmal eine große zivilisatorische Errungenschaft war. Wir haben es geschafft, den älteren Menschen noch eine Zeit zu schenken, in der Regel mit guter ökonomischer Absicherung. Das gab es früher in der Form nicht. Und das können wir jetzt nicht einfach aufgeben. Insofern geht es wirklich darum, auch zu differenzieren zwischen denjenigen, die können und wollen, und denjenigen, die aus welchen Gründen auch immer nicht mehr können. Wir brauchen also keine Standardformel, sondern eine bedarfsgerechte Flexibilität.

Sie haben die Situation für das höhere Lebensalter beschrieben. Auch ein früherer Eintritt in den Arbeitsmarkt würde das Arbeitskräftepotenzial erhöhen. Wird das diskutiert?

Schneider: Das ist ein interessanter Sachverhalt. Soweit ich die Diskussion in Deutschland beobachte, diskutieren wir zur Bewältigung der demografisch hervorgerufenen Probleme oder Herausforderungen über das Ende des Erwerbslebens. Es gibt praktisch keine Diskussion über den Beginn. Und wir können feststellen, dass die jungen Menschen immer später ins Erwerbsleben eintreten. Und auch da wäre ja eine Stellschraube. Warum versucht man nicht auch, Maßnahmen zu entwickeln, dass die jungen Menschen früher eintreten und sich aus dem Grund auch länger im Erwerbssystem aufhalten?

Wir wissen, dass Erwerbstätigenquoten in allen Lebensaltern abhängig sind vom Bildungsstand – je höher der Bildungsstand, desto höher die Erwerbstätigenquote -, vom Geschlecht – Männer sind stärker im Erwerbsleben integriert als Frauen – und von der regionalen Herkunft. Und wenn man nur mal sich bestimmte Gruppen anschaut, so was wie die 15- bis 19-Jährigen, dann sieht man, dass in dieser Gruppe Frauen mit einer geringen Bildung, also maximal Hauptschulabschluss, zu 19 % ins Erwerbsleben integriert sind. Da kann man sagen, das ist halt so, das nehmen wir hin. Oder man sieht an so einer Stelle eben auch Ansatzpunkte für gesellschaftspolitisches Handeln, um hier eine stärkere Beteiligung herbeizuführen.

Herr Schüller, Wie ist denn die Lage, wenn man sich Erwerbstätigkeit jüngerer Menschen anschaut?

Schüller: Wir haben beobachtet, dass sich der Eintritt ins Erwerbsleben, über den Herr Schneider auch gerade gesprochen hat, in Deutschland in den letzten Jahren nach hinten verschoben hat. Mitte der 2000er Jahre waren rund 45 % der 20- bis 24-Jährigen noch in Bildung oder Ausbildung und noch nicht auf dem Arbeitsmarkt aktiv. Rund zehn Jahre später lag dieser Anteil bereits bei 54 %. Das heißt, man sieht, was durchaus auch gewollt war, den Trend zu verlängerten Ausbildungszeiten, zum Beispiel die Aufnahme eines Studiums, dadurch aber auch die Verschiebung des Eintritts in den Arbeitsmarkt nach hinten. Im europäischen Vergleich zeigt sich eine ähnliche Entwicklung, allerdings auf einem niedrigeren Niveau. EU-weit ist der Anteil der 20- bis 24-Jährigen in Bildung und Ausbildung im gleichen Zeitraum von 41 % auf 45 % gestiegen.

Herr Schneider hat eben schon das Thema Erwerbstätigkeit von Frauen angesprochen oder den Bedarf, auch mal kürzer zu treten im Beruf. Gerade um Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen, arbeiten viele Menschen im besten Erwerbsalter in Teilzeit, nach wie vor allem Frauen. Die Geschlechterunterschiede sind da immer noch deutlich, Herr Schüller, oder?

Schüller: Auf jeden Fall, die Unterschiede sind deutlich sichtbar. Im Jahr 2021, das sind die aktuellsten Daten, die uns vorliegen, liegt die Teilzeitquote der Frauen bei 49 %, das heißt, rund die Hälfte aller erwerbstätigen Frauen arbeitet in Teilzeit. Bei den Männern liegt dieser Anteil lediglich bei 12 %. Das ist also ein ganz deutlicher Unterschied. Trotzdem ist bei beiden Geschlechtern in den letzten Jahren ein kontinuierlicher Anstieg zu beobachten. Bei den Frauen waren es 2011 noch 46 %, bei den Männern war er bei 10 %. Wenn man noch ein bisschen differenziert, in welchen Berufen die Teilzeitanteile am höchsten sind, dann sieht man erwartungsgemäß, dass das die Berufe mit einem hohen Frauenanteil sind. Beispielsweise beobachten wir den höchsten Teilzeitanteil in den Reinigungsberufen, da sind es 75 %, die in Teilzeit arbeiten. Aber auch in Verkaufsberufen, auch hier ein hoher Frauenanteil, sind es 54 % der Beschäftigten.

Schneider: Wobei ich bei diesen Berufen die These wagen würde, dass es Berufe sind, in denen man nicht so gerne arbeitet im Sinne von Sinnstiftung, sondern in denen man eher arbeiten muss im Sinne von ökonomischer Notwendigkeit. Und dann versucht man als hinzuverdienende Person, ein Volumen hinzubekommen, mit dem man seine sonstigen Aufgaben und Vorlieben noch umsetzen kann, und gleichzeitig das Haushaltsbudget ausreicht.

Wo steckt denn da das Potenzial für den Arbeitsmarkt drin, wenn wir uns die Teilzeitquoten anschauen?

Schneider: Ich habe kürzlich eine Veröffentlichung des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung gesehen, wo man auch mal versucht hat, die Lücke auszuweisen zwischen dem Arbeitszeitvolumen, das die Menschen haben, und dem, was sie gerne hätten. Auch da gibt es ein Mismatch: Viele derer, die in Teilzeit arbeiten, würden gerne mehr Stunden arbeiten. Aber die generelle Idee – so ein bisschen holzschnittartig gesagt – ist immer noch: 20 oder 40 Stunden. Was wir brauchen, ist eine mehr oder weniger frei skalierbare Möglichkeit, das Arbeitsvolumen zu gestalten. Und wenn man dann etwas herstellt – das IAB hat das "präferenzgerechte Arbeitszeit" genannt –, wonach jeder so viele Stunden in der Woche arbeiten könnte, wie er oder sie sich tatsächlich wünschen würde, dann, ich zitiere, würde man 1,4 Millionen Vollzeitäquivalente schaffen. Also nur diese einzige Lücke, die ja durch Inflexibilität des Arbeitsangebots zu erklären ist, würde schon einen wesentlichen Beitrag leisten zur Verringerung der Lücke auf dem Arbeitsmarkt. Da würde ich zum Beispiel einen Ansatzpunkt sehen.

Herr Schüller, was lässt sich denn aktuell überhaupt über die geleistete Arbeitszeit in Deutschland sagen und wie hat sich diese in den vergangenen Jahren entwickelt?

Schüller: Ich versuche mal, es etwas zu differenzieren. Wenn wir die Vollzeiterwerbstätigen anschauen, dann arbeiteten sie in Deutschland im Jahr 2021 durchschnittlich 40,6 Stunden. Das ist etwas mehr als im EU-Durchschnitt, der lag bei 40,5 Stunden. Aber mehr oder weniger doch genauso wie in den anderen europäischen Staaten.

Schauen wir auf die Teilzeiterwerbstätigen, die Gruppe, über die wir uns eben unterhalten haben: Teilzeiterwerbstätige in Deutschland arbeiteten im Schnitt 21,8 Stunden im Jahr 2021, und damit etwas weniger als der EU-Durchschnitt, wo die Teilzeiterwerbstätigen über alle europäischen Staaten hinweg 22,3 Stunden arbeiten.

So ist in etwa das Verhältnis Vollzeit/Teilzeit. Wenn man alle Erwerbstätigen zusammen betrachtet, betrug im Jahr 2021 die durchschnittliche normalerweise geleistete Wochenarbeitszeit 35,3 Stunden. Das ist etwas unter dem EU-Durchschnitt von 37,4 Stunden. Dieser Durchschnittswert wird vom hohen Anteil der Erwerbstätigen in Teilzeit beeinflusst: Deutschland lag 2021 im EU-Vergleich mit seiner Teilzeitquote auf Platz vier, und das geht natürlich dann auch in die durchschnittliche Wochenarbeitszeit entsprechend ein.

Herr Schneider, wenn wir das nun zusammenbringen: Deutschland liegt, was die durchschnittliche Wochenarbeitszeit betrifft, unter dem EU-Durchschnitt, auch wegen des vergleichsweise hohen Teilzeitanteils. Gleichzeitig ist es in vielen Berufen möglicherweise schwierig, bis ins hohe Alter zu arbeiten. Wie bewerten Sie vor diesem Hintergrund Forderungen wie die nach einer 42-Stunden-Woche?

Schneider: Eine weitere Erhöhung der Arbeitszeit über dieses 40-Stunden-Niveau hinaus halte ich kulturell für vollkommen deplatziert. Ich glaube, die Menschen wollen weniger arbeiten. Die Zahl der Menschen, die ihren Lebensunterhalt ausschließlich über Erwerbsarbeit finanzieren, nimmt ab. Einfach aufgrund des Wohlstands der Elterngeneration. Und darauf muss man in irgendeiner Weise reagieren. Richtig wäre meines Erachtens, die Menschen im Arbeitsmarkt zu halten, ihnen Freude und Sinn bei der Erwerbsarbeit anzubieten, und Flexibilität. Wenn Menschen gerne kommen und wenn Menschen loyal sind und committed, dann leisten sie auch mehr.

Stichwort Zuwanderung: Herr Schüller, inwieweit ließen sich in der Vergangenheit durch Zuwanderung Lücken im Arbeitsmarkt schließen?

Schüller: Wenn wir die verschiedenen Bereiche auf dem Arbeitsmarkt beleuchten, wiederum gestützt durch Ergebnisse aus dem Mikrozensus, dann sehen wir die höchsten Anteile von nicht-deutschen Arbeitskräften in der Gastronomie – da sind es 40 % der Erwerbstätigen. Auch im Verkehrswesen, zum Beispiel bei Post-, Kurier- und Expressdiensten, da sind es 26 %. Aber auch im Baugewerbe gibt es viele Erwerbstätige, die nicht die deutsche Staatsangehörigkeit haben, im Hochbau sind es beispielsweise 22 %. Noch ein anderer Bereich, nämlich die Beschäftigung in Privathaushalten, dazu gehört auch die häusliche Betreuung. Da liegt der Anteil der nicht-deutschen Beschäftigten bei 26 %. Hier sieht man also ganz deutlich, wo Beschäftigte ohne deutsche Staatsangehörigkeit ihre Dienste leisten.

Noch ein anderer Aspekt: In der EU wurde 2012 die BlueCard eingeführt. Die Absicht dahinter war, dem generellen Mangel an hochqualifizierten Fachkräften zu begegnen und Personen von außerhalb der EU mit entsprechenden Qualifikationen einen befristeten Aufenthaltsstatus zu ermöglichen. In Deutschland ist Zahl der Personen mit diesem Aufenthaltstitel seit der Einführung kontinuierlich angestiegen. Ende 2021 waren 70 000 Personen mit einer BlueCard hier in Deutschland erwerbstätig. Die größte Gruppe übrigens, mit 28 %, kam aus Indien. Knapp die Hälfte dieser 70 000 arbeiteten in sogenannten Mangelberufen. Mangelberufe sind Berufe, bei denen eine sehr hohe Zahl an unbesetzten Stellen registriert wird. Hierzu zählen beispielsweise Ärztinnen und Ärzte, Ingenieurinnen und Ingenieure oder IT-Fachkräfte.

So viel zur bisherigen Entwicklung, es kursieren aktuell viele Zahlen zur künftig nötigen Arbeitskräftezuwanderung. Die Bundesagentur für Arbeit nannte die Zahl 400 000 Arbeitskräfte pro Jahr. Herr Schneider, welche Rolle spielt die Zuwanderung, wenn es darum geht, den Arbeitsmarkt für die nächsten Jahrzehnte aufzustellen?

Schneider: Die Rede ist von 400 000, manchmal auch von 490 000 Arbeitskräften pro Jahr für die nächsten 30, 40 Jahre. Die Idee ist, das sind Personen, die kommen und sofort bei uns erwerbstätig werden. Wie absurd das ist, kann ich mir gar nicht vorstellen. Fakt ist: Diese Personen bringen häufig Partner/-innen und Kinder mit. Wenn ich also von 490 000 notwendigen Fachkräften rede, rede ich von vielleicht 1,5 Millionen Zuwanderern – per annum. Das ist, glaube ich, weder erreichbar, noch wären die möglicherweise auftretenden Probleme bei der Integration so einfach zu lösen. Das ist der eine Punkt.

Der zweite Punkt ist: Die Initiativen, die die Bundesregierung gestartet hat, nämlich gezielt Fachkräfte in ohnehin schon ökonomisch schlecht gestellten Ländern abzuwerben, halte ich für maximal problematisch, weil dadurch die Wohlstandslücke zwischen uns und diesen Ländern weiterwächst. Diese Länder haben die Ausbildung ihrer Fachkräfte finanziert, und wir setzen sie ein. Und dort fehlen sie. Zumindest müsste man darüber nachdenken, dass man eine Ausbildungsentschädigung zahlt an diese Länder – in großem Stil. Insofern müssen wir immer auch die Situation in den Herkunftsländern mitbedenken.

Migration bedeutet immer weniger, dass jemand von A nach B zieht und dort dauerhaft verbleibt, sondern Migration ist immer häufiger temporär oder Pendelmigration. Wenn wir also darauf setzen, dass wir dauerhaft Fachkräfte brauchen, die aber nicht dauerhaft bleiben werden, wenn sie das nicht wollen, dann entsteht so etwas wie brain circulation. Und dann profitieren auch die Herkunftsländer durch die Erfahrung und den Wohlstand, den sich Menschen hier erarbeitet haben. Ich glaube, in der Hinsicht müssen wir als wohlhabendes Land sehr viel sensibler und aufmerksamer werden und auch sehr viel mehr investieren.

Ich möchte zum Abschluss des Gesprächs nochmal auf die Datenlage zu diesem Themenkomplex schauen. Herr Schüller, sie haben heute viele Ergebnisse aus verschiedenen Statistiken und Erhebungen des Statistischen Bundesamtes mitgebracht. Was erwarten Sie für die nächsten Jahre an Entwicklungen?

Schüller: Ich hatte die Arbeitskräfteerhebung erwähnt und auch erklärt, dass wir immer von Jahr zu Jahr unterschiedliche Themen intensiv beleuchten. Im Jahr 2021 war das zum Thema "Migration". Hier laufen gerade die Aufbereitungen, das wird also nicht mehr lange dauern. Wir haben unter anderem auch dazu gefragt, inwiefern bei Migrantinnen und Migranten die Qualifikation, die sie mitbringen, zu den Anforderungen passt, die auf dem Arbeitsmarkt an ihre Tätigkeiten gestellt werden. Das Matching-Thema, hatten wir vorhin angesprochen. Hier erwarten wir ganz interessante Ergebnisse, wie stark das ausgeprägt ist und inwieweit die Passfähigkeit gegeben ist oder auch nicht. Und wenn wir etwas weiter in die Zukunft schauen: Im Jahr 2024 ist das Thema "Junge Menschen auf dem Arbeitsmarkt". Und da stellen wir ähnliche Fragen. Unter anderem auch: Was habt ihr gelernt? Welche Qualifikationen bringt ihr aus dem Bildungs- und Ausbildungssystem mit? Und wie passt das zu den Anforderungen im Job, denen ihr, wenn ihr in den Arbeitsmarkt eintretet, begegnet? Ähnliches Thema also, nur nicht auf die Zugewanderten, sondern auf die gesamte junge Bevölkerung bezogen. Das werden sicher auch sehr spannende Ergebnisse werden.

Einen letzten Punkt möchte ich noch erwähnen: Wir haben gerade die Ergebnisse der neuen 15. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung veröffentlicht. Wir planen, diese Ergebnisse für weitere Berechnungen nutzen, beispielsweise für den Bereich der Pflege und auch der benötigten Pflegekräfte.

Herrn Schneider, auch an Sie die Frage: Wie beurteilen sie die Datenlage zum Thema Arbeitskräftemangel und wo sehen Sie den größten Nachholbedarf?

Schneider: Die Datenlage in Deutschland ist gar nicht schlecht. Was schlecht ist, ist die Zugänglichkeit und die Verfügbarkeit zu diesen Daten. Und die generelle Frage, die sich für mich stellt, ist: Wie kann eine datenschutzkonforme Zugänglichkeit zu den Daten für wissenschaftliche Forschung erleichtert werden. Ich denke an Registerdaten, an Steuer-, Gesundheits-, Renten-, Krankenkassendaten. Ich denke auch an Big Data. Die sind ja alle da, nur sind die Zugänge, natürlich zu anonymisierten Daten, beschränkt. Insofern geht es wirklich darum, Datenzugänge zu erleichtern, auch die technischen Möglichkeiten zur Nutzung dieser Daten. Auch die Qualität dieser Daten zu verbessern und – ganz wichtig – daran zu arbeiten, das Misstrauen gegenüber der wissenschaftlichen Nutzung dieser Daten zu verringern.

Ganz klar ist, dass wir in Deutschland im Moment unter unseren Möglichkeiten sind. Die Potenziale einer evidenzbasierten Politikberatung werden nicht ausgeschöpft. Es gibt einen Schaden für den Wissenschaftsstandort Deutschland, weil wir bestimmte Daten nicht nutzen dürfen, die in anderen Ländern nutzbar sind, und deswegen der wissenschaftliche Erkenntnisstand über bestimmte Sachverhalte – Fertilität wäre so ein Beispiel – in Deutschland schlechter ist als zum Beispiel in Schweden. Und diese Daten wären natürlich, wenn man sie nutzen könnte, auch geeignet für eine bessere, wissensbasierte, gesellschaftspolitische Steuerung dieser Republik.

Weiterführende Informationen:

Daten und Fakten zu Arbeitszeiten, Teilzeitbeschäftigung oder Arbeitsbelastung finden Sie gebündelt auf unserer Themenseite Arbeitsmarkt.

Die Erwerbstätigenquoten nach Altersklassen und Bildungsabschluss im EU-Vergleich stehen in der Eurostat Datenbank zur Verfügung. Weitere Informationen zu älteren Erwerbstätigen auf Europa in Zahlen.

Informationen zur möglichen zukünftigen Entwicklung der Bevölkerung in Deutschland und zum demografischen Wandel liefern die Bevölkerungsvorausberechnungen.